Kreuzzug
Die einheimischen Burschen staunten nicht schlecht, als sie der vermeintliche Vietnamese im breitesten Partenkirchnerisch an die Verhaltensregeln in engen Zügen erinnerte: »Schaugts, dass enka Zuig gscheid varrammts und lassts mi eini.«
So weit hatte alles geklappt. Er saß im Zug. Um 12 Uhr 28 sollte er laut Fahrplan auf dem Zugspitzplatt ankommen. Fünf bis zehn Minuten später würde es wohl werden bei dem Andrang an diesem Tag. An jeder Talhaltestelle, am Hausberg und am Kreuzeck sowie später in Hammersbach und in Grainau , würden sicher weitere Touristen in den bereits vollen Zug einsteigen wollen. Das Gedränge würde dafür sorgen, dass man den Fahrplan nicht würde einhalten können. Aber das spielte keine Rolle mehr. Thien saß und würde diesen Platz erst knapp zweitausend Höhenmeter weiter oben wieder aufgeben.
Er ging in Gedanken schon die Motive durch, die er bei dem strahlenden Wetter fotografieren würde. Er kannte dort oben jeden Felsen und jede Bergdohle mit Vornamen. Thien konnte sein Glück kaum fassen, dass er diesen Zug erwischt hatte.
Eine gute Stunde später würde Thien aufgehen, welches Pech er gehabt hatte, dass dieser Zug
ihn
erwischt hatte.
Kapitel fünf
Zugspitzbahnhof Eibsee, 12 Uhr 08
F ranz Hellweger stand an der Schalttafel in seinem Führungsstand am Bahnhof Eibsee und blickte den Berg hinauf. Das elektronische Notfallsystem hatte gemeldet, dass der aufwärtsfahrende Zug plötzlich mitten im Tunnel stehen geblieben war, auf Höhe der Ausweiche 4 . Das war auf dem Fahrstandsanzeiger in der Mitte der großen grauen Schalttafel abzulesen. Eine rote Alarmleuchte meldete eine Notbremsung. Der abwärtsfahrende Zug stand ebenfalls, er hatte in Ausweiche 4 gewartet, um den von unten kommenden Zug durchzulassen.
Franz Hellweger griff zum Funkgerät. Über ein Schlitzkabel im Tunnel war der Betriebsfunk zwischen dem Zug und den Bahnhöfen auf der gesamten Strecke sichergestellt. Doch keiner der beiden Zugführer meldete sich zurück. Es gab auch noch das alte AEG -Telefon, dessen Signale über die Oberleitungen übertragen wurde. Achtzig Jahre lang hatte das funktioniert. Das Telefon war tot. Franz Hellweger nahm sein Handy vom Schaltpult und rief die Bergstation auf dem Platt an. Der diensthabende Betriebsleiter im Bahnhof Zugspitzplatt sah auf seinen Instrumenten die gleichen Informationen wie Hellweger unten am Eibsee. Auch er stand der Situation ratlos gegenüber.
Die beiden Männer beschlossen, von oben und von unten je einen Trupp in den Tunnel zu schicken. Für Franz Hellweger bedeutete dies, dass er die nächste aus dem Tal herauffahrende Bahn räumen lassen musste, um sie mit seinen Leuten zu besetzen. Das würde ein Spaß werden. Er wartete, bis der Zug den Bahnhof Eibsee erreicht hatte, und dann forderte er die Fahrgäste über die Lautsprecheranlage dazu auf, die Wagen zu verlassen. Als Begründung gab er an, eine Betriebsstörung liege vor. Anschließend ließ er den vorderen der beiden Triebwagen abkoppeln und schickte fünf seiner Mitarbeiter damit nach oben. Sein Kollege im Bahnhof Zugspitzplatt schickte drei Männer zu Fuß zum Tunnel, da ja kein weiterer Zug oben zur Verfügung stand.
Franz Hellweger wartete zehn Minuten, ohne eine Nachricht zu erhalten. Er blickte hinüber zum Bahnsteig, wo sich immer mehr Fahrgäste drängten. Zu den gut zweihundert Passagieren, die er hatte aussteigen lassen, kamen die, die mit dem Auto oder Bus zum Eibsee gefahren waren und von hier aus auf die Zugspitze wollten. Weitere zehn Minuten vergingen. Endlich meldete sich sein Trupp. »Leitstelle von Triebwagen fünf – kommen.«
»Hier Leitstelle – kommen.«
»Hier Triebwagen fünf – Meldung: Franz, da ist kein Durchkommen.«
»Was soll das heißen?«
»Felssturz. Tunnel vollkommen verschüttet. Riesige Brocken vom Boden bis zur Decke. Keine Ahnung, wie tief und ob das hält, wenn wir hier ein paar der Felsen entfernen.«
»Wo genau beginnt der Felssturz?«
»Ungefähr zwanzig Meter vor Ausweiche vier. Der Tunnel ist dort noch eng und eingleisig. Wir wissen natürlich nicht, wie weit der Sturz reicht.«
»Und wo steht euer Wagen?«, fragte Hellweger. Er wollte wissen, wie weit die Oberleitung, deren Stromkreis nach Streckenabschnitten unterteilt war, funktionierte. Bei einem Felssturz musste die Stromversorgung schon irgendwo weiter oben unterbrochen sein.
»Wir sind mit dem Zug bis auf dreihundert Meter an den Felssturz heran, danach gibt’s keinen Strom
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