Kreuzzug
mehr.«
»Sicht- oder Hörkontakt mit dem Zug? Klopfzeichen?« »Nichts. Wir sehen die Hand vor den Augen nicht. Der Staub hängt in der Luft.«
»Befehl von Leitstelle: Lasst alles liegen, fangt nicht an zu graben! Wiederhole: Graben negativ! Wartets oben und schauts, obs was hörts.«
»Hier Triebwagen fünf – verstanden und over.«
»Leitstelle – over.« Franz Hellweger schob seine ölverschmierte Basecap in den Nacken und rieb sich über die Stirn. »Um Himmels willen. Felssturz. Tunnel eingebrochen. Das ist eigentlich vollkommen ausgeschlossen«, murmelte er vor sich hin. »Ich hoffe nur, dass da nicht die Bahn verschüttet ist. Ob wir da einen rausbekommen? Ich meine lebend?«
Franz Hellweger erwartete keine Antwort von seinem Mitarbeiter Matthias Meier, der schweigend neben ihm stand und zum Gipfel hinaufblickte. Er wagte sich in Gedanken nur langsam an ein Bild des Zugs, der von Gesteinsmassen verschüttet sein musste. Die Züge waren so konstruiert, dass sie bei optimaler Gewichtsersparnis möglichst stabil waren. Die Aluminiumkarossen waren robust genug für den täglichen harten Einsatz. Sie konnten Tausende von Ausflüglern über zweitausend Höhenmeter nach oben und wieder nach unten bringen, Tag für Tag. Jahr für Jahr. Aber dem Druck von Tausenden Tonnen Gestein würden sie nicht standhalten. Sie würden zusammengequetscht wie leere Zigarettenschachteln, die man in der Faust zerdrückte. Die Menschen darin wären nicht zu retten. Zum überwiegenden Teil zumindest. Wunder gab es immer wieder bei solchen Unglücken. Selbst beim Brand der Standseilbahn am Kitzsteinhorn vor einigen Jahren hatten einige wenige Menschen überlebt. Und auch bei Erdbeben fand man nach Tagen noch Lebende unter den Trümmern. Aber an die musste man erst einmal herankommen.
In dem Moment meldete sich der Betriebsleiter vom Bahnhof Zugspitzplatt per Handy. Sein Trupp, der von oben zu Fuß in den Tunnel eingedrungen war, gab einen praktisch gleichlautenden Bericht ab wie die Kollegen, die die Unglücksstelle von unten her begutachteten: kein Durchkommen zum Zug, Felssturz kurz hinter Ausweiche 4 . Nichts zu sehen und nichts zu hören. Alles meterhoch voll Felsbrocken und ansonsten: Staub.
Hellwegers böse Vorahnung bewahrheitete sich. Der Tunnel musste über die komplette Länge der Ausweiche 4 , knapp über zweihundert Meter lang, eingestürzt sein. Der vollbesetzte aufwärts- und der um diese Zeit fast leere abwärtsfahrende Zug waren verschüttet. Über zweihundert Menschen mussten das sein. Franz Hellweger musste eine Rettungsaktion einleiten, die so nicht in den Notfallplänen stand. Jegliches verfügbare technische Gerät und jede Menge Helfer mussten dorthin, sei es von unten aus per Schiene mit den verfügbaren Zügen oder von oben vom Platt, wohin die Gerätschaften und Helfer erst einmal per Hubschrauber oder mit der Seilbahn hingeschafft werden mussten.
Franz Hellweger wählte die Notrufnummer 112 . Der Disponent der ILS Oberland, der »Integrierten Leitstelle Oberland«, im siebzig Kilometer entfernten Weilheim, stellte seine Standardfragen: was, wo, wann, wie viele Verletzte?
»Ich habe keine Ahnung, was da los ist! Die Züge scheinen verschüttet. Da sind über zweihundert Personen drin. Macht euch auf einen schwierigen Einsatz gefasst.«
Viel mehr Informationen konnte Hellweger dem Mann nicht geben. Der gab sie in seinen PC ein. Die im System hinterlegten Alarmierungspläne setzten automatisch die Feuerwehren der gesamten Umgebung, das Rote Kreuz und das Technische Hilfswerk in Bewegung. Keine dreißig Minuten später standen die ersten Feuerwehr- und Rettungsdienstfahrzeuge und rund zwanzig Retter der Bergwacht auf dem völlig überfüllten Zugspitzparkplatz am Eibsee. Weitere Einsatzfahrzeuge der Feuerwehren, der Sanitätsdienste und des THW steckten auf der verstopften Eibseestraße fest. Die Polizei sperrte den Parkplatz der Zugspitzbahn ab und versuchte den nach oben strömenden Verkehr am Wendehammer am Ende der Straße wieder nach unten zu leiten.
Kapitel sechs
Mittenwald , Dammkar, 6 . Januar 2012 , 12 Uhr 38
L ass dir doch ein bisschen Zeit, um die Aussicht zu genießen, Sandra!« Markus Denninger wollte nicht zugeben, dass seine neue Freundin im Begriff stand, ihn beim Aufstieg abzuhängen.
Und Sandra Thaler dachte überhaupt nicht daran, langsamer zu werden. Sie war in einer grandiosen körperlichen Verfassung. Den ganzen Sommer lang hatte sie – sofern sie nicht auf einer
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