Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Krieg und Frieden

Krieg und Frieden

Titel: Krieg und Frieden Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Lew Tolstoi
Vom Netzwerk:
Hier schwankte er zwischen den beiden reichsten Mädchen, Julie Karagin und Fürstin Marie. Obgleich die Fürstin Marie, ungeachtet ihres unschönen Äußeren, ihm angenehmer erschien als Julie, vermochte er doch nicht, ihr den Hof zu machen. Bei seinem letzten Besuch am Namenstag des alten Fürsten waren alle seine Bemühungen, von Gefühlen mit ihr zu sprechen, vergeblich gewesen, sie hatte augenscheinlich nicht gehört, was er sagte. Julie dagegen nahm seine Aufmerksamkeiten gern an. Sie war siebenundzwanzig Jahre alt und sehr reich. Jetzt war sie vollkommen häßlich geworden, hielt sich aber nicht nur für schöner, sondern sogar für verführerischer, als sie früher war. In diesem Irrtum wurde sie dadurch bestärkt, daß sie erstens sehr reich geworden war, und zweitens dadurch, daß sie mit dem zunehmenden Alter ungefährlicher für die Männer wurde und diese sich unbefangen mit ihr unterhielten und ohne irgendeine Verpflichtung zu übernehmen, ihre Diners und Abendgesellschaften besuchen konnten. Mancher, welcher vor zehn Jahren sich gescheut hätte, jeden Tag ein Haus zu besuchen, in dem ein siebzehnjähriges Mädchen wohnte, um sie nicht zu komprimittieren und sich zu binden, kam jetzt unbefangen jeden Tag.
    Eines der angenehmsten und gastfreundlichsten Häuser Moskaus war in diesem Winter das Haus Karagin. Außer zu den Galadiners und Gesellschaften sammelte sich auch jeden Tag hier eine große Gesellschaft, besonders von Herren, welche um zwölf Uhr nachts speisten und bis drei Uhr sitzenblieben. Julie versäumte keinen Ball, kein Theater, ihre Toiletten waren immer die modernsten. Aber dennoch schien sie blasiert, sagte jedem, sie glaube weder an Freundschaft, noch an Liebe, noch an irgendwelche Lebensfreude und erwarte Ruhe nur dort. Sie nahm den Ton eines Mädchens an, das große Enttäuschungen erfahren, das vielleicht einen Geliebten betrauerte oder grausam von ihm betrogen worden war. Obgleich nichts der Art ihr zugestoßen war, glaubte sie doch selbst, schon viel im Leben erduldet zu haben. Diese Melancholie, die sie nicht abhielt, zuweilen sehr heiter zu werden, war auch für die jungen Leute, welche das Haus besuchten, kein Hindernis, die Zeit angenehm zuzubringen. Jeder Gast erfüllte seine Pflicht gegen die melancholische Stimmung der Dame und überließ sich dann weltlichen Gesprächen, dem Tanze und geistreichen Spielen. Einige junge Leute, worunter auch Boris, vertieften sich mehr in den melancholischen Gemütszustand von Julie, und diesen öffnete sie nach längeren Gesprächen über die Eitelkeit alles Irdischen ihr Album, das mit trübsinnigen Gedanken und Gedichten gefüllt war.
    Julie war besonders freundlich gegen Boris, beklagte seine frühzeitigen Enttäuschungen im Leben und bot ihm jene Tröstung der Freundschaft, die sie ihm bieten konnte, nachdem sie selbst im Leben so viel erlitten hatte, und öffnete ihm ihr Album. Boris zeichnete darin zwei Bäume und schrieb darunter: »Ländliche Bäume, eure düsteren Zweige überschatten mich mit Finsternis und Melancholie.«
    Auf einer anderen Stelle zeichnete er ein Grab und schrieb darunter:
»Der Tod ist erlösend, der Tod ist still,
Ach, gegen die Schmerzen gibt es kein anderes Asyl!«
     
    Julie sagte, das sei entzückend.
    »Es liegt etwas unendlich Verführerisches im Lächeln der Melancholie«, sagte sie zu Boris. Sie hatte diese Stelle Wort für Wort in seinem Buch gelesen. Darauf schrieb Boris:
»Giftige Nahrung für eine empfindsame Seele,
Du, ohne die für mich das Glück unmöglich wäre,
Zarte Melancholie, komm und tröste mich!
Gebiete dem Sturm in meiner düstern Einsamkeit,
Und mische eine geheime Süßigkeit
Mit dieser Tränen Flüssigkeit.«
     
    Julie spielte Boris auf der Harfe einige melancholische Notturnen vor. Boris las ihr vor, häufig unterbrochen von empfindsamer Aufregung. In größerer Gesellschaft sahen Boris und Julie einander an, wie die einzigen Menschen in der gleichgültigen Welt, welche einander begriffen.
    Anna Michailowna war oft bei Karagins und spielte Karten mit der Mutter, wobei sie es verstand, sich darüber zu versichern, daß Julie als Mitgift die beiden Güter bei Pensa und den Wald im Nishnij-Nowgorodschen Gouvernement erhalte. Mit Ergebung in den Willen der Vorsehung war sie gerührt über die tiefe Schwermut, welche ihren Sohn mit der reichen Julie verband.
    »Unsere Julie ist immer so entzückend und melancholisch«, sagte sie zur Tochter.
    »Boris sagt, er atme wieder frei auf in Ihrem

Weitere Kostenlose Bücher