Krieg und Frieden
frühere, feine, bewegliche Natalie wiedererkennen konnte. Ihre Gesichtszüge waren stärker hervorgetreten und hatten den Ausdruck ruhiger Weichheit; das früher beständig glühende Feuer, das so mächtigen Reiz ausgeübt hatte, war erloschen, jetzt sah man nur ihr Gesicht und ihren Körper, aber von ihrer Seele war nichts mehr wahrzunehmen. Man sah nur die kräftigen, roten Züge der Mutter, und nur sehr selten flammte das frühere Feuer wieder auf, nur dann, wenn ihr Mann zurückkehrte, oder wenn ein Kind genas, oder wenn sie mit der Gräfin Marie vom Fürsten Andree sprach, und sehr selten dann, wenn irgend etwas zufällig sie zum Singen veranlaßte, das sie nach der Heirat ganz aufgegeben hatte. Mit ihrem Mann sprach sie niemals vom Fürsten Andree, um nicht seine Eifersucht zu erregen. In diesen seltenen Fällen, wenn das frühere Feuer wieder erglühte, war sie noch verführerischer als früher.
Sie lebte mit ihrem Mann in Moskau, in Petersburg und auf dem kleinen Gut bei Moskau, zuweilen auch bei ihrer Mutter, das heißt bei Nikolai. In Gesellschaft war die junge Gräfin Besuchow wenig zu sehen, und diejenigen, welche sie sahen, waren wenig befriedigt davon. Sie war weder angenehm noch liebenswürdig; alle, die Natalie vor ihrer Ehe gekannt hatten, waren verwundert über die an ihr vorgegangene Veränderung. Nur die alte Gräfin begriff mit mütterlichem Scharfsinn, daß alle die früheren Vorgänge in Natalies Leben ihren Ursprung nur in dem Verlangen hatten, eine Familie, einen Mann zu haben, wie sie in Otradno nicht nur im Scherz gerufen hatte. Nur die Mutter, wiederholte sie, habe immer gewußt, daß Natalie eine musterhafte Frau und Mutter sein werde. »Sie übertreibt nur die Liebe zu ihrem Mann und den Kindern«, sagte die Gräfin, »bis zur Unsinnigkeit!«
Natalie befolgte nicht jene goldene Regel, die kluge Leute, besonders die Franzosen wohl kennen, nämlich, daß eine Frau sich nicht gehen lassen dürfe und nicht ihre Talente wegwerfen, sondern mehr als in den Mädchenjahren auf ihr Äußeres Bedacht nehmen und ihren Mann ebenso für sich einzunehmen suchen müsse, wie früher den Bräutigam. Natalie hatte im Gegenteil alle ihre Reize von sich geworfen, deren schönster ihr Gesang war, sie kümmerte sich nicht um ihre Manieren und die Zartheit ihrer Rede, auch nicht um ihre Toilette. Es lag ihr nichts daran, sich vor ihrem Manne im besten Licht und anspruchslos zu zeigen, ihr Benehmen war in allem diesen Regeln entgegengesetzt. Sie fühlte, daß jene Reize, die der weibliche Instinkt sie früher zu entfalten gelehrt hatte, jetzt in den Augen ihres Mannes nur lächerlich wären, dem sie in der ersten Minute alles hingegeben hatte, das heißt ihre ganze Seele, in der nicht ein Eckchen ihm verschlossen blieb. Sie fühlte, daß das Band, das sie mit ihrem Manne verknüpfte, nicht durch jene poetischen Gefühle, die ihn zu ihr hingezogen hatten, gehalten wurde, sondern durch etwas anderes, Unbestimmtes, aber Festes, wie das, was ihre Seele mit ihrem Körper verband.
Locken zu drehen und Lieder zu singen, um ihren Mann an sich zu fesseln, wäre ihr ebenso sonderbar erschienen, als sich auszuschmücken, um mit sich selbst zufrieden zu sein. Man schmückt sich aus, um anderen zu gefallen, das wäre vielleicht auch ihr angenehm gewesen, aber daran war nicht zu denken. Der hauptsächlichste Grund, warum sie nicht sang, nicht auf ihre Toilette und ihre Redeweise achtete, bestand darin, daß ihr nichts daran gelegen war.
Bekanntlich hat der Mensch die Fähigkeit, sich ganz in einen Gegenstand zu vertiefen, so unbedeutend er auch scheinen mag. Der Gegenstand, in den sich Natalie vertiefte, war die Familie, das heißt ihr Mann, den sie festhalten mußte, damit er ganz ihr gehöre, das Haus und die Kinder, die sie gebären, nähren und aufziehen mußte. Und je mehr sie, nicht mit dem Geiste, aber mit ganzer Seele und ihrem ganzen Wesen in den Gegenstand ihres Interesses eindrang, um so mehr wuchs dieser Gegenstand vor ihrem geistigen Auge an, um so schwächer und unbedeutender erschienen ihr ihre Kräfte, so daß sie sie alle auf das konzentrierte und demnach nicht alles zu tun vermochte, was ihr nötig erschien.
Man sprach damals schon, wie jetzt, von den Rechten der Frau, von den Beziehungen der Ehegatten, von ihrer Freiheit und ihren Rechten, obgleich man das damals noch nicht »Frage« nannte. Aber das alles interessierte Natalie nicht, und sie begriff entschieden nichts davon. Diese Fragen existierten
Weitere Kostenlose Bücher