Küsschen, Küsschen!: Elf ungewöhnliche Geschichten (German Edition)
Geschlecht war glänzend gerechtfertigt, ich konnte beruhigt sein.
All die quälenden Schuldgefühle, die sich immer wieder in mir geregt und mein Gewissen belastet hatten, flogen im Nu aus dem Fenster. Das Bewusstsein meiner Unschuld verlieh mir ungeahnte Kraft und Heiterkeit.
Einen Augenblick spielte ich mit dem absurden Gedanken, das schwarze Eisengitter, das den Pfarrgarten umgab, unter Strom zu setzen; die Pforte allein würde vielleicht schon genügen. Dann konnte ich von der Bibliothek aus in aller Gemütsruhe zuschauen, wie die Damen Elphinstone, Prattley und Unwin – diesmal in Menschengestalt – ihre endgültige Strafe dafür empfingen, dass sie ein unschuldiges männliches Wesen belästigt hatten.
Verrückte Gedanken!
Nein, sagte ich mir, so geht es nicht. Ich muss mich vielmehr mit einer Art unsichtbarem elektrischen Zaun umgeben, der ganz aus meiner persönlichen Moral besteht. Dahinter kann ich dann in vollständiger Sicherheit sitzen, während die Feinde, einer nach dem anderen, gegen das Gitter prallen.
Ich nahm mir vor, ein schroffes Benehmen an den Tag zu legen, alle Frauen kurz abzufertigen und sie nicht anzulächeln. Auch wollte ich keinen Schritt mehr zurückweichen, wenn eine auf mich zukam, sondern ihr standhalten, sie durchdringend ansehen und jeden Annäherungsversuch mit einer scharfen Antwort quittieren.
In dieser Stimmung begab ich mich am nächsten Tag zu Lady Birdwells Tennisgesellschaft.
Ich selbst spielte nicht, aber die Lady hatte mich freundlich aufgefordert, gegen sechs Uhr zu kommen, wenn das Spiel zu Ende sei. Sie glaubte wohl, die Anwesenheit eines Geistlichen werde der Zusammenkunft eine gewisse Note verleihen, und vielleicht hoffte sie auch, dass sie mich zu einer Darbietung wie bei ihrer letzten Gesellschaft überreden könnte, wo ich nach dem Souper volle einundeinviertel Stunden am Klavier gesessen und die Gäste mit einem Vortrag über die Entwicklung des Madrigals im Laufe der Jahrhunderte unterhalten hatte.
Pünktlich um sechs Uhr erreichte ich auf meinem Fahrrad den langen Weg, der vom Gartentor zum Haus führte. Es war die erste Juniwoche, und die Rhododendronsträucher zu beiden Seiten standen in voller Blüte, purpurn und hellrot. Ich fühlte mich ungewöhnlich munter und verwegen. Nach dem Experiment mit den Ratten konnte mich nun niemand mehr überrumpeln. Ich wusste genau, was meiner harrte, und war entsprechend gerüstet. Das kleine Gitter um mich herum würde mich schützen.
«Ah, guten Abend, mein lieber Vikar», rief Lady Birdwell, als sie meiner ansichtig wurde, und eilte mit ausgestreckten Armen auf mich zu.
Ich hielt mannhaft stand und blickte ihr fest in die Augen.
«Wie geht’s Birdwell?», fragte ich. «Ist er noch in der Stadt?»
Bestimmt hatte sie nie zuvor erlebt, dass jemand, der nicht zu Lord Birdwells Bekannten gehörte, in diesem Ton von ihm sprach. Sie erstarrte förmlich zur Salzsäule, sah mich sonderbar an und wusste offenbar nicht, was sie antworten sollte.
«Ich werde mich setzen, wenn Sie nichts dagegen haben», sagte ich und ging an ihr vorbei zur Terrasse, wo neun oder zehn Gäste bequem in Rohrsesseln lehnten und an ihren Drinks nippten. Die Gesellschaft bestand vorwiegend aus Frauen, der gewohnte Kreis, alle in weißen Tenniskleidern, und ich hatte den Eindruck, mein ehrbarer schwarzer Anzug werde es mir erleichtern, die erforderliche Distanz zu halten.
Die Damen begrüßten mich lächelnd. Ich verbeugte mich kurz und nahm auf einem freien Stuhl Platz, ohne ihr Lächeln zu erwidern.
«Ich erzähle meine Geschichte lieber ein andermal zu Ende», sagte Miss Elphinstone. «Ich glaube, sie würde unserem Vikar nicht gefallen.» Sie kicherte und warf mir einen schelmischen Blick zu. Ich wusste, dass sie auf mein übliches nervöses Lachen wartete und auf meine übliche Beteuerung, wie weitherzig ich sei, aber ich tat nichts dergleichen. Ich hob nur die eine Seite meiner Oberlippe, bis sie sich zu einem schwachen verächtlichen Lächeln kräuselte – das hatte ich am Morgen vor dem Spiegel ausprobiert –, und sagte scharf mit lauter Stimme: «Mens sana in corpore sano.»
«Wie bitte?», rief sie. «Noch einmal, Herr Vikar.»
«Ein sauberer Geist in einem gesunden Körper», antwortete ich. «Es ist der Wahlspruch meiner Familie.»
Daraufhin entstand ein ziemlich langes befremdetes Schweigen. Ich sah, dass die Damen Blicke wechselten, die Stirn runzelten und verstohlen den Kopf schüttelten.
«Unser Vikar ist schlechter
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