Küsschen, Küsschen!: Elf ungewöhnliche Geschichten (German Edition)
Seite, wo die Sehnen vorsprangen. Bei einer solchen Person konnte man das Alter schwer erraten, aber ich schätzte sie auf nicht mehr als achtundvierzig oder neunundvierzig Jahre.
Kaum hatte ich mein zweites Glas geleert, als mich eine höchst merkwürdige Empfindung überkam. Mir war, als stiege ich von meinem Stuhl in die Luft, emporgetragen von Hunderten kleiner warmer Wellen, die unter mir fluteten. Ich fühlte mich leicht wie eine Wasserblase; alles um mich herum schien auf und ab zu schweben und dabei sanft von einer Seite zur anderen zu schwingen. Das war überaus angenehm, und ich verspürte eine fast unbezwingbare Lust, laut zu singen.
«Na, geht’s Ihnen gut?», hörte ich Miss Roachs Stimme aus weiter Ferne. Ich drehte mich um und stellte zu meinem Erstaunen fest, dass sie dicht neben mir saß. Auch sie schwebte auf und ab.
«Großartig», versicherte ich. «Mir geht’s einfach großartig.»
Ihr breites rosiges Gesicht war mir so nahe, dass ich den hellen Flaum sah, der ihre Wangen bedeckte. Im Sonnenlicht schimmerte jedes einzelne Härchen wie Gold. Plötzlich war ich versucht, die Hand auszustrecken und diese Wangen zu streicheln. Um ehrlich zu sein – es wäre mir gar nicht unangenehm gewesen, hätte sie das bei mir getan.
«Hören Sie», sagte sie weich, «wollen wir beide nicht einen kleinen Spaziergang durch den Garten machen und die Lupinen anschauen?»
«Fein», antwortete ich. «Wunderbar. Ganz wie Sie wünschen.»
In Lady Birdwells Garten befindet sich neben dem Krocketplatz ein kleines Sommerhaus, und ehe ich wusste, wie mir geschah, saß ich in diesem Sommerhaus neben Miss Roach auf einer Art Chaiselongue. Ich schwebte noch immer auf und ab, sie ebenfalls, und was das betrifft, ging es dem Sommerhaus auch nicht anders. Wunderbar war das. Ich fragte Miss Roach, ob ich ihr etwas vorsingen solle.
«Jetzt nicht», erwiderte sie, schlang die Arme um mich und zog meine Brust so fest an die ihre, dass es wehtat.
«Lassen Sie», sagte ich schmelzend.
«So ist es schön», murmelte sie in einem fort. «So ist es schön, nicht wahr?»
Hätte Miss Roach oder irgendein anderes weibliches Wesen eine Stunde zuvor dergleichen getan, ich weiß nicht, was passiert wäre. Wahrscheinlich wäre ich in Ohnmacht gefallen. Vielleicht sogar gestorben. Nun aber, obwohl ich noch immer derselbe war, störte es mich kein bisschen, dass diese üppigen nackten Arme meinen Körper berührten. Im Gegenteil – und das war das erstaunlichste an der Sache –, allmählich erwachte in mir der Wunsch, die Umarmung zu erwidern.
Ich nahm ihr linkes Ohrläppchen zwischen Daumen und Zeigefinger und zog spielerisch daran.
«Unartiger Junge», sagte sie.
Ich zog stärker und drückte gleichzeitig ein wenig. Das erregte sie in solchem Maße, dass sie wie ein Schwein grunzte und schnaufte. Ihr Atem wurde laut und keuchend.
«Küss mich», befahl sie.
«Wie?», fragte ich.
«Los, küss mich.»
In diesem Augenblick sah ich ihren Mund, ihren großen Mund langsam auf mich zukommen, sich öffnen, sich immer weiter öffnen, und auf einmal fühlte ich, wie sich mir der Magen umdrehte, und ich erstarrte vor Schreck.
«Nein!», schrie ich. «Nein, Mammi, nein!»
Glauben Sie mir, in meinem ganzen Leben habe ich nichts Entsetzlicheres gesehen als diesen Mund. Ich konnte es einfach nicht ertragen, dass er mir näher und näher kam. Hätte mir jemand ein rotglühendes Eisen ins Gesicht stoßen wollen, ich wäre längst nicht so versteinert gewesen, das schwöre ich. Die starken Arme hielten mich fest umschlungen, sodass ich mich nicht rühren konnte, und der Mund wurde größer und größer. Plötzlich war er dicht über mir, riesig, feucht, ein klaffendes Loch – und in der nächsten Sekunde war ich drinnen.
Ich befand mich ganz in dem riesigen Mund, lag längs der Zunge auf dem Bauch, mit den Füßen irgendwo in der Gegend der Kehle, und ich wusste instinktiv, dass ich genau wie das kleine Kaninchen lebend verschluckt werden würde, wenn es mir nicht sofort gelang zu entkommen. Ich fühlte, wie meine Beine durch eine Art Sog in den Schlund hinabgezerrt wurden, hob rasch die Arme, packte die unteren Vorderzähne und hielt mich aus Leibeskräften daran fest. Mein Kopf war nahe der Mundöffnung, ich konnte sogar zwischen den Lippen ein Stückchen Außenwelt sehen – den gebohnerten Holzfußboden des Sommerhauses, der im Sonnenschein glänzte, und darauf einen gigantischen Fuß mit einem weißen Tennisschuh.
Ich hatte mich
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