Kunst des klaren Denkens
der deutschen Besetzung von Paris – notiert er: »Hier rechnen alle damit, dass sie Ende des Jahres wieder abziehen. Das bestätigen mir auch die deutschen Offiziere. So schnell, wie Frankreich gefallen ist, wird England fallen. Und dann werden wir endlich wieder unseren Pariser Alltag zurückhaben – wenn auch als Teil von Deutschland.«
Wer heute ein Geschichtsbuch über den Zweiten Weltkrieg aufschlägt, wird mit einer ganz anderen Geschichte konfrontiert. Die vierjährige Besetzung Frankreichs scheint einer stringenten Kriegslogik zu folgen. Rückblickend erscheint der faktische Kriegsverlauf als das wahrscheinlichste aller möglichen Szenarien. Warum? Weil wir Opfer des Rückschaufehlers (englisch: »hindsight bias«) sind.
Wer heute die Wirtschaftsprognosen des Jahres 2007 nachliest, ist überrascht, wie positiv damals die Aussichten für die Jahre 2008 bis 2010 ausgefallen sind. Ein Jahr später, 2008, implodierte der Finanzmarkt. Nach denUrsachen der Finanzkrise befragt, antworten dieselben Experten heute mit einer stringenten Geschichte: Ausweitung der Geldmenge unter Greenspan, lockere Vergabe von Hypotheken, korrupte Ratingagenturen, legere Eigenkapitalvorschriften und so weiter. Die Finanzkrise erscheint rückblickend als vollkommen logisch und zwingend. Und doch hat kein einziger Ökonom – es gibt weltweit rund eine Million davon – ihren genauen Ablauf vorausgesagt. Im Gegenteil: Selten ist eine Expertengruppe dem Rückschaufehler so sehr auf den Leim gekrochen.
Der Rückschaufehler ist einer der hartnäckigsten Denkfehler überhaupt. Man kann ihn treffend als Ich-hab’s-schon-immer-gewusst-Phänomen bezeichnen: Rückblickend scheint alles einer einsichtigen Notwendigkeit zu folgen.
Ein CEO, der durch glückliche Umstände zum Erfolg gekommen ist, schätzt die Wahrscheinlichkeit seines Erfolgs rückblickend viel höher ein, als sie objektiv war. Kommentatoren fanden Ronald Reagans gigantischen Wahlsieg über Jimmy Carter im Jahr 1980 nachträglich nachvollziehbar, ja zwingend – obwohl die Wahl bis wenige Tage vor dem Stichtag auf Messers Schneide lag. Wirtschaftsjournalisten schreiben heute, dass die Dominanz von Google unabwendbar gewesen sei – obwohl jeder von ihnen gelächelt hätte, wenn dem Internet-Start-up 1998 eine solche Zukunft prognostiziert worden wäre. Und noch ein besonders krasses Beispiel: Dass ein einziger Schuss in Sarajewo 1914 die Welt für die nächsten 30 Jahre komplett umpflügen und 50 Millionen Menschenleben kosten würde, scheint rückblickend tragisch, aber plausibel. Jedes Kind lernt es in der Schule. Dochdamals, 1914, hätte sich niemand vor einer solchen Eskalation gefürchtet. Zu absurd hätte sie geklungen.
Warum ist der Rückschaufehler so gefährlich? Weil er uns glauben macht, wir seien bessere Vorhersager, als wir es tatsächlich sind. Das macht uns arrogant und verleitet uns zu falschen Entscheidungen. Und das durchaus auch bei privaten »Theorien«: »Hast du gehört? Sylvia und Klaus sind nicht mehr zusammen. Das konnte ja nur schiefgehen, so verschieden, wie die beiden sind.« Oder: »Das konnte ja nur schiefgehen, die beiden sind sich einfach zu ähnlich.« Oder: »Das konnte ja nur schiefgehen, die beiden klebten ja immer aneinander.« Oder: »Das konnte ja nur schiefgehen, die sahen sich ja kaum.«
Den Rückschaufehler zu bekämpfen, ist nicht einfach. Studien haben gezeigt, dass Leute, die ihn kennen, genauso häufig in die Falle tappen wie alle anderen. Insofern haben Sie beim Lesen dieses Kapitels Zeit verschwendet.
Doch noch ein Tipp, mehr aus persönlicher denn aus wissenschaftlicher Erfahrung: Führen Sie ein Tagebuch. Schreiben Sie Ihre Vorhersagen – zu Politik, Karriere, Körpergewicht, Börse – nieder. Vergleichen Sie Ihre Notizen von Zeit zu Zeit mit der tatsächlichen Entwicklung. Sie werden erstaunt sein, welch schlechter Prognostiker Sie sind. Und: Lesen Sie Geschichte ebenso. Nicht die nachträglichen, kompakten Theorien. Sondern lesen Sie die Tagebücher, Zeitungsausschnitte, Protokolle aus jener Zeit. Das wird Ihnen ein viel besseres Gefühl für die Unvorhersehbarkeit der Welt geben.
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