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Land aus Glas

Land aus Glas

Titel: Land aus Glas Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Alessandro Baricco
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hätte es mit grenzenloser Boshaftigkeit sagen können, doch sie sagte es sanft. Man mußte es sich sanft gesprochen vorstellen: »Hallo, Mormy. Ich heiße Jun, und ich bin nicht deine Mutter. Ich werde es auch nie sein.«
    An jenem Abend begann es wie zur Strafe zu regnen. Und mit erstaunlicher Heftigkeit ging es die ganze Nacht so weiter. »Ein richtiges Pißwetter«, nannte es Ticktel, der was von Theologie verstand, weil er Koch in einem Priesterseminar gewesen war – das zumindest behauptete er; ein Gefängnis sei es gewesen, sagten die anderen; Dummköpfe, das ist doch das gleiche, sagte er. Mormy lag in seinem Zimmer, hatte die Decke bis über den Kopf hochgezogen und wartete auf Donnerschläge, die nicht kamen. Er war acht Jahre alt und wußte nicht recht, wie ihm geschah. Doch zwei Bilder hatten sich ihm eingeprägt: Juns Gesicht, das schönste, das er je gesehen hatte, und der gedeckte Tisch unten im Speisezimmer. Die drei Leuchter; das Licht; der enge Hals der wie Diamanten geschliffenen Flaschen; die mit rätselhaften Buchstaben bestickten Servietten; der Dampf, der aus der weißen Suppenterrine aufstieg; der Goldrand der Teller; das hellglänzende, auf großen Blättern in einer Silberschale angerichtete Obst. Das alles und Juns Gesicht. Sie waren ihm in den Kopf gefahren, diese beiden Bilder, wie die unmittelbare Wahrnehmung eines absoluten, bedingungslosen Glücks. Er würde sie für immer bei sich tragen. Denn gerade so haut dich das Leben übers Ohr. Es packt dich, wenn deine Seele noch schläft, und gibt dir ein Bild ein oder einen Geruch oder einen Klang, die du nicht mehr loswirst. Und das hier war das Glück. Du merkst es erst hinterher, wenn es zu spät ist. Und schon bist du – für immer und ewig – ein Verbannter: Tausende Kilometer von diesem Bild, von diesem Klang, von diesem Geruch entfernt. Haltlos dahintreibend.
    Zwei Zimmer weiter stand Jun, die Nase gegen die Fensterscheibe gepreßt, und sah sich dieses Pißwetter an. Sie blieb so stehen, bis sie Mr. Rails Arme auf ihren Hüften spürte, dann seine Hände, die sie sanft umdrehten, seine Augen, die sie sonderbar ernst ansahen, und sie schließlich seine Stimme hörte, die leise und vertraulich klang.
    »Jun, wenn es etwas gibt, das du mich fragen willst, dann frag es jetzt.«
    Jun begann das rote Tuch aufzubinden, das er um den Hals trug, öffnete seine Jacke und einen nach dem anderen die Knöpfe seiner dunklen Weste, wobei sie mit dem untersten anfing und langsam bis zum obersten hochstieg, der – obwohl nunmehr, falls überhaupt, der einzige, der das Haltlose hielt – gleichwohl einen Augenblick widerstand, genau einen Augenblick, bevor er still nachgab, als Mr. Rail sich gerade über Juns Gesicht beugte und sagte – oder fast bat: »Hör mir zu, Jun … Sieh mich an und frag mich, was du fragen willst!«
    Aber Jun sagte nichts. Sie brach einfach, ohne daß sich etwas in ihrem Gesicht regte, vollkommen lautlos in Tränen aus, in dieser Art, die wunderschön ist, das Geheimnis nur weniger Menschen, sie weinen nur mit den Augen, wie bis zum Rand mit Traurigkeit gefüllte Gläser, unerschütterlich, während dieser überzählige Tropfen sie schließlich besiegt und über den Rand läuft, gefolgt von tausend weiteren, und reglos stehen sie da, während ihre kleine Niederlage an ihnen herabrinnt. So weinte Jun. Sie hörte auch dann nicht auf, nicht mal für einen kurzen Augenblick, als ihre Hände Mr. Rail auszogen, und auch danach nicht, als sie ihn nackt unter sich sah und überall küßte, sie hörte nicht auf, sie fuhr fort, den Klumpen ihrer Traurigkeit in diesen reglosen, stillen Tränen aufzulösen – schönere Tränen gibt es nicht –, während sie Mr. Rails Geschlecht mit den Händen umschloß und mit ihren Lippen langsam über diese glatte, unglaubliche Haut fuhr – schönere Lippen gab es nicht –, und sie weinte auf ihre unbesiegbare Art, als sie die Beine öffnete und fast wütend sogleich Mr. Rails Geschlecht in sich aufnahm und so gewissermaßen auch den ganzen Mr. Rail, und während sie ihre Arme auf das Bett stützte und in das Gesicht dieses Mannes hinuntersah, der ans andere Ende der Welt gefahren war, um eine bildschöne Schwarze zu bumsen, sie mit so heißblütiger Treffsicherheit zu bumsen, daß er ihr ein Kind im Bauch zurückließ, während sie in dieses Gesicht sah, das ihres anschaute, begann sie, den besiegten Widerstand in sich kreisen zu lassen, der das Geschlecht von Mr. Rail war, es

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