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Landnahme

Landnahme

Titel: Landnahme Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Christoph Hein
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schroff gefragt hatte, presste sie die Lippen aufeinander und verzog das Gesicht, als wolle sie gleich wieder losheulen.
    Ein älterer Mann mit einem Kind an der Hand kam auf die Rathaustreppe zu. Er versuchte mit Winken die Aufmerksamkeit des weinerlichen kleinen Mädchens auf sich zu ziehen und so rasch, wie die Trippelschritte des anderen Mädchens, das er an seiner Hand hielt, es ihm erlaubten, zuihm zu gelangen. Es dauerte einige Augenblicke, ehe die Kleine auf dem Podest ihren herbeieilenden Großvater entdeckte, und mit einem großen Seufzer der Erleichterung begann sie nun hemmungslos zu weinen. Der Redner stellte das Mädchen auf die Füße und schickte, als der Großvater mit dem zweiten Mädchen an der Treppe angelangt war und immerzu besänftigend den Namen des Mädchens rief, das heulende Kind die Treppe hinunter und in die Arme des Großvaters.
    Der Herr, der das Kind gebracht hatte, stand auf der Treppe und sah dem Redner zu, der nun das Mikrofonkabel zusammenlegte.
    »Guten Tag, Holzwurm«, sagte er schließlich halblaut.
    Der Angesprochene sah auf und unterbrach seine Arbeit. Er sah den Fremden prüfend mit zusammengekniffenen Augen an.
    »Sprechen Sie mit mir? Wollen Sie etwas von mir?«, fragte er misstrauisch.
    Der Mann lächelte ihn freundlich an. Er kam eine weitere Stufe höher und fragte: »Erkennst du mich nicht, Holzwürmchen?«
    Der andere sah ihn prüfend an, wandte sich dann wortlos ab, verknotete gemächlich und sorgfältig das Kabel und steckte das Mikrofon zwischen die Schnur. Danach sah er den Mann an und schüttelte leicht den Kopf. »Nein. Ich glaube nicht. Sie sind nicht von Guldenberg, nicht wahr?«
    »Das ist richtig. Aber ich habe hier gelebt. Das ist lange her. Ein paar Jahre. Nein, ein paar Jahrzehnte schon.«
    »Ich kann mich an Sie nicht erinnern. Waren wir Schulkameraden?«
    »Acht Jahre lang«, sagte der Fremde, »die ganze Grundschule hindurch. Nein, in Wahrheit waren es nur fünf Jahre. Und ein paar Jahre davon haben wir zusammen auf einer Schulbank gesessen.«
    Der Mann mit dem Mikrofon in der Hand fasste nachseinem Kopf, um sich über die Haare zu streichen. Als seine Finger die Karnevalskappe berührten, nahm er sie hastig ab, faltete sie zusammen und klemmte sie unter einen Arm. Das schütter gewordene Haar war grau, und tiefe Geheimratsecken hatten die weißliche Kopfhaut entblößt.
    »Nein, ich erinnere mich nicht an Sie.«
    »Der Pillendreher. Das war mein Spitzname.«
    »Sagt mir nichts. Tut mir Leid.«
    »Thomas Nicolas heiße ich. Wir waren Banknachbarn.«
    »Und wie kommen Sie hierher?«, fragte der Mann, den der andere als Holzwurm angesprochen hatte. Dann korrigierte er sich: »Wie kommst du hierher?«
    »Ein Zufall. Ich war auf der Durchfahrt und dachte, ich schaue mir mal an, was aus meinem alten Städtchen geworden ist.«
    »Und? Zufrieden? In den letzten Jahren wurde viel gebaut und restauriert.«
    »Ja, ich habe es gesehen. Es ist alles kleiner geworden. Die Kirche, das Rathaus, dieser Platz, das war damals alles größer, viel größer.«
    Der andere sah ihn verständnislos an, und der Fremde fuhr lächelnd fort: »Oder ich bin größer geworden, vielleicht liegt es daran.«
    »Verzeihung, ich habe zu tun. Wir haben Karneval. Der Umzug, die Feiern, ich muss mich darum kümmern. Vielleicht sieht man sich ein andermal.«
    Er verschwand für einen Moment hinter der offen stehenden Rathaustür. Als er zurückkam, hatte er sich den Papierhelm wieder aufgesetzt. Er sprach die drei Männer an, die zuvor mit ihm auf dem Podest gestanden und jetzt auf ihn gewartet hatten. Gemeinsam gingen sie eilig die Treppe hinab und stellten sich hinter das Prinzenpaar. Der Dirigent sah kurz zu ihnen und gab dann den Musikern ein Zeichen, die Musik setzte ein, und langsam kam der Zug in Bewegung.
    Bevor die Spitze des Festzugs mit der Kapelle, dem Prinzenpaar und den Honoratioren in der Straße hinter dem Rathaus verschwand, warf der als Holzwurm angesprochene Mann einen Blick zurück. Thomas Nicolas, der Fremde, der seiner Heimatstadt einen kurzen Besuch abstattete, stand auf der Rathaustreppe und lächelte ihm zu.

Thomas Nicolas
    Das neue Schuljahr hatte bereits begonnen, als Mitte September Fräulein Nitzschke in der dritten Schulstunde mit einem Neuen in der Klasse erschien. Fräulein Nitzschke war die Klassenlehrerin und gab bei uns Deutsch und Heimatkunde. Sie war Ende vierzig und unverheiratet und legte Wert darauf, als Fräulein angesprochen zu werden. Wenn einer

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