Lange Finger - flinke Beine
1. Kapitel
Dr. Emmerich Höfer erhob sich beim Eintritt des Geistlichen.
Mit einem wissenden Lächeln um die Mundwinkel trat er hinter seinem Schreibtisch hervor. Wenn der gute Hennemann mit dieser Miene bei ihm auftauchte, war der Anlaß immer ein spezieller: Es ging um einen Häftling. Oder um den oder die Angehörigen eines solchen.
Sie schüttelten sich die Hände, und Dr. Höfer dirigierte den Besucher in einen der drei Sessel, denen man es auf den ersten Blick ansah, daß ihre Anschaffung viele Jahre zurücklag.
»Ihrem Gesichtsausdruck nach zu schließen, führen Sie wieder einmal einen schweren Kampf gegen ein schwieriges Problem«, sagte der Gefängnisdirektor, als sie sich gegenübersaßen. »Oder irre ich?«
Ein leises Heben der Schultern und der Ansatz eines Seufzers leiteten die Antwort ein:
»Es bringt die Nähe zur Basis mit sich, daß man manche Ereignisse überscharf sieht, lieber Doktor Höfer.«
»Während ein Direktor weitab vom Schuß sitzt. Das meinten Sie doch!«
»Vielleicht nicht so provokativ. Aber es ist doch ganz natürlich, daß ich mit den persönlichen Problemen der Gefangenen in ganz anderer Art und Weise konfrontiert werde als Sie. Sie sind die Administration, ich bin die Praxis.« Höfer nickte. »Also gut, wie lautet Ihr Problem diesmal?«
In Pfarrer Hennemanns Handbewegung lag alle Ratlosigkeit, die mit seinem »Problem« zusammenhing.
»Leider ist Ihre Frage nicht so leicht und eindeutig zu beantworten, wie sie gestellt ist. Einfach deshalb, weil ich noch nicht dahintergekommen bin, was genau mich so beunruhigt.« Ein schnelles Durchatmen, dann sagte er: »Ich mache mir Sorgen um Olaf Boransky.«
Dr. Emmerich Höfer stutzte. Seine Augen suchten den Schreibtisch ab, entdeckten den blauen Karton mit Daten und Namen.
Der Name Boransky stand an dritter Stelle von oben. »Boransky. Der wird doch übermorgen entlassen«, sagte er und legte den Karton zurück. »Gibt es Schwierigkeiten mit ihm, Herr Pfarrer?«
Hennemann schüttelte den Kopf. »So gesehen, nicht.«
»Das sollte mich auch wundern. Es hat bis heute nie Beschwerden über ihn gegeben. Er zählte doch zu den ausgesprochen friedfertigen Sträflingen.«
Hennemann schluckte den Einwurf unwidersprochen hinunter, während Dr. Höfer anmerkte:
»Und schließlich war es doch auch Ihrer Initiative zu verdanken, daß man ihm einen Teil der Strafe erließ.« Pfarrer Hennemann lehnte sich zurück. Nur seinen Händen war anzusehen, daß ihn die Angelegenheit, die ihn hergeführt hatte, mehr bewegte, als er zuzugeben bereit war. »Gerade das macht mir plötzlich Sorgen.«
»Ich bitte Sie, Herr Pfarrer, nun übertreiben Sie aber.«
»Ich habe oft versucht, mit Boransky ins Gespräch zu kommen. Es ging immer gut, bis zu dem Punkt, wo ich auf die Zukunft zu sprechen kam. Was geschehen sollte, wenn seine Strafe vorbei sei.«
»Vielleicht hat er Hemmungen, seinen Angehörigen gegenüberzutreten.«
»Ich glaube nicht, daß er irgendwelchen Angehörigen gegenübertreten will. Es hat ihn während all der Jahre niemand besucht.«
»Sie sagten eingangs, Sie machten sich Sorgen um Boransky. Irgendwie müssen Sie diese Sorgen doch begründen können.«
Hennemann schüttelte den Kopf. »Alles, was ich vermute, kann falsch sein.«
»Und was vermuten Sie?«
Pfarrer Hennemann zögerte lange mit der Antwort, und man spürte, wie sie, dann gesagt, ihn doch unzufrieden machte:
»Ich fürchte, daß er eine Dummheit vorhat. Eine Unüberlegtheit. Wenn ich eben sagte, daß die Gespräche mit Boransky immer nur bis zu einem gewissen Punkt gingen, so muß ich jetzt einschränkend erwähnen, daß das vor dem Tod seines Freundes Kaiser war. Die mangelnde Bereitschaft, sich mit mir zu unterhalten, hat sich seit jenem schlimmen Vorfall so verhärtet, daß so gut wie kein Gespräch mehr zustande kommt. Das einzige, was er mich immer wieder fragt, ist: >Herr Pfarrer, was können Sie mir über den Tod von Kaiser sagen? Wie weit sind die Untersuchungen gediehen? Wer war der Täter?<«
Dr. Höfer winkte ärgerlich ab.
»Die Untersuchung ergab eindeutig, daß kein Fremdverschulden vorlag. Kaiser erhängte sich selbst, während seine Zellengenossen beim Fernsehen waren.«
»So das offizielle Untersuchungsergebnis. Ich habe es Boransky gegenüber immer wieder erwähnt.«
»Es gibt nur ein offizielles Ergebnis.«
»Boransky zweifelt es an. Mit Vehemenz und...« Hennemann stockte und schloß dann leise: »... mit viel Überzeugungskraft.«
»Ich
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