Laura Leander 06 - Laura und das Labyrinth des Lichts
haben.
Obwohl alle Heilerinnen dieser Aufgabe seit jeher sorgfältig und nach bestem Vermögen nachkamen, hatte es schon des Öfteren Fehldeutungen gegeben. Die Elevinnen wurden daher besonders gewissenhaft auf die edle Kunst der Orakeldeutung vorbereitet, und so hatte auch Alienor ihren ersten Versuch noch vor sich, obwohl sie bereits seit einigen Sommern bei Morwena in die Lehre ging. Doch jetzt war der große Tag endlich da, dem sie seit Wochen entgegenfieberte.
Stunde über Stunde hatte sie den Ausführungen und Anweisungen ihrer Lehrmeisterin gelauscht und versucht, sich jedes Wort genau einzuprägen. Zudem hatte sie Morwena mehrere Male zur Orakelhöhle begleitet, die in einem kleinen Seitental der Dusterklamm gelegen war. Alienor erinnerte sich, was das Ritual bei ihrer Lehrmeisterin bewirkt hatte.
Mitunter war ein Leuchten über Morwenas Antlitz gegangen, und manchmal hatte sich ihr Gesicht vor Schmerz verzerrt. Einmal – ein einziges Mal nur! – hatte die Heilerin laut aufgeschrien und war gleich darauf aus der Trance hochgeschreckt. Sie musste eine schlimme Botschaft empfangen haben, denn auf die entsprechende Frage ihrer Elevin hatte sie nicht geantwortet – bis zum heutigen Tage nicht.
All das ging Alienor nun durch den Kopf, während sie die letzten Anweisungen ihrer Lehrmeisterin entgegennahm.
»Hab keine Angst!« Morwena wollte ihr Mut zusprechen. »Mach alles genau so, wie ich es dir erklärt habe! Vertrau auf die Kraft des Lichts, dann wird es dir auch gelingen.«
»Natürlich, Herrin.« Alienor versuchte, ihre Anspannung hinter einem Lächeln zu verbergen.
»Und noch eins!« Mahnend hob die Heilerin den Zeigefinger. Die Flammen des Feuers zuckten, und das Wechselspiel von Licht und Schatten irrlichterte in Morwenas kastanienbraunem Haar. »Denk stets daran: Es ist durchaus möglich, dass das Orakel stumm bleibt. Die Wissenden Dämpfe lassen sich nicht zu einer Botschaft drängen. Wer ein Orakel zu erzwingen sucht, dem werden sie sich verweigern – oder ihn in die Irre führen, was eine große Gefahr darstellt! Öffne dich also der Macht des Lichts und lass es einfach geschehen. Hast du verstanden, Alienor?«
»Ja, Herrin«, antwortete das Mädchen.
»Dann mach dich bereit.«
Alienor sah die Heilerin ein letztes Mal an, dann setzte sie sich neben die Felsspalte, der ein gelblicher Dampf entströmte. Sie schloss die Augen. Den Orakelgesang kannte sie längst auswendig, und er kam wie von allein über Alienors Lippen. Sie ließ den würzigen Rauch des Feuers in ihre Nase steigen und öffnete sich den schwefeligen Dämpfen aus der Erde. Ohne dass sie es merkte, beschleunigte sich der Fluss ihrer Worte. Die Bewegungen des schlanken Mädchenkörpers wurden schneller und schneller, bis er sich wie ein Halm im Wind sacht hin und her wiegte.
Doch Alienor nahm von all dem längst nichts mehr wahr. Sie war in Trance versunken. Weder die Heilerin noch die Höhle hatten noch Platz in ihrem Kopf. Bilder drifteten durch ihre Gedanken, schwerelos und wie von weit her. Zunächst noch undeutlich und verschwommen, dann immer klarer, zeigten sie ihr einen geheimnisvollen Wald. In ihrem ganzen Leben hatte die Elevin noch keinen vergleichbaren gesehen. Dann erblickte sie eine verzauberte Lichtung mit einem verwunschenen See. Auf seiner Oberfläche spiegelten sich zwei Monde, rund und prall, glänzend golden der eine, strahlend blau der andere. Am Ufer des Sees aber stand eine stolze Einhornstute mit einem Füllen, das sich dicht an ihren Bauch schmiegte.
Ein Lächeln schlich sich auf Alienors Gesicht, doch sie merkte es gar nicht. Morwena, die abwartend neben ihrer Elevin saß und sie ständig beobachtete, gewahrte es wohl. Sie empfand ein tiefes Glücksgefühl, denn die entrückte Miene der Schülerin bewies eindrucksvoll, dass die Wissenden Dämpfe dem Mädchen eine Botschaft übermittelten. Beim ersten Versuch kam das höchst selten vor, und so war es ein weiterer Beweis für das große Talent, das in Alienor schlummerte.
Während die Heilerin ihre Elevin noch voller Stolz betrachtete, verzerrten sich Alienors anmutige Gesichtszüge mit einem Male zu einer Fratze der Furcht. Ihr schmächtiger Körper bebte so heftig, als werde er von schweren Krämpfen geschüttelt, dann erstarrte sie und sank in sich zusammen. Hätte Morwena nicht gedankenschnell die Arme ausgebreitet und Alienor aufgefangen, wäre sie mit dem Kopf auf den felsigen Boden geschlagen.
Kapitel 3 Das
Labyrinth
des Lichts
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