Laura, Leo, Luca und ich
Gedanken auf, in denen ein Brückengeländer und ein Betonklotz am Bein eine zentrale Rolle spielten. Beide waren Fußballfans, Leo sogar ein waschechter Schiedsrichter, der es bis in die Dritte Liga geschafft hatte und auch schon ein paar Freundschaftsspiele der ganz Großen (Inter, Juve) hatte pfeifen dürfen. Luca studierte Architektur und sollte bald mit seinen Freunden ein Studio in Padua eröffnen. Wann immer er mich in München besuchte, wollte er weder ins Hofbräuhaus noch auf den Marienplatz: Er schaute sich lieber U-Bahn -Stationen an.
Insgesamt hätte mein Willkommen in der Familie |33| nicht wärmer ausfallen können. Vielleicht auch deswegen, weil ich nur die Hälfte verstand. Vielleicht aber auch deswegen, weil alle erleichtert waren, dass Laura endlich einen gefunden hatte. Sie war ja schon 26 und hatte einem Verehrer nach dem anderen den Laufpass gegeben. Ich hielt es, so hatte es den Anschein, gut mit ihr aus. Ihre Brüder schoben das auf meine mangelnden Sprachkenntnisse.
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Hätte Gott gewollt,
dass der Mensch fliegt,
hätte er ihm Flügel gegeben
I ch arbeitete also zunächst weiter bei ›Playboy‹ in München, Laura arbeitete in der Firma ihres Vaters in Grado. Und los ging die Pendelei auf der Strecke München-Salzburg-Villach-Udine-Grado, 498 Kilometer von Haustür zu Haustür. Wer jetzt findet, das sei aber eine ganz schön lange Strecke für ein Wochenende hin und her, der hat uneingeschränkt Recht. Liebende sollte so etwas nicht interessieren, aber das soll nicht heißen, dass ich nicht oft genug wortwörtlich ins Lenkrad gebissen hätte, aus Frust, weil es nicht weiterging. An einem Samstag im August brauchte ich mal zwölfeinhalb Stunden für die Fahrt, davon allein sechs vor dem Tauerntunnel. Wer ihn nicht kennt, weil er zumeist über den Brenner nach Italien fährt, dem sei gesagt: Der Tauerntunnel ist nur einspurig befahrbar. Und wenn die Urlaubermassen heranrollen, dann droht das Schreckgespenst »Blockabfertigung«, das entsetzlichste Wort der Welt. Mehrere Kilometer vor |35| dem Tunnel wird der Verkehr angehalten, und alle 15 Minuten dürfen wieder ein paar hundert Autos durch. Das führt zu bis zu dreißig Kilometer langen Staus und lässt einen sehr, sehr einsam werden.
Es gibt ein paar Dinge, die den wahren Charakter eines Mannes zeigen. Die Plattensammlung (ist sie von A bis Z geordnet? Enthält sie eine ungesunde Menge R. E. M.?). Sein Beruf. Seine Schuhe. Die Farbe seines Autos (falls er eins hat). Vor allem aber: ein Stau. Ein Mann, der im Stau cool bleibt, ist auch im Kreißsaal eine Hilfe. Goethe hat mit der Kutsche von Frankfurt nach Venedig zehn Tage gebraucht, da sollten mir zehn Stunden geradezu paradiesisch vorkommen. Doch man muss nicht Einsteins Lebenswerk verstehen, um zu wissen, dass Zeit eine höchst relative Sache ist. Zehn Minuten Telenovela schauen ist relativ viel, zehn Minuten Anna Kournikovas Fitnessvideo dagegen relativ wenig. Zwei Stunden am Strand sind relativ wenig, zwei Stunden im Stau dagegen relativ viel. Zumal ich gerne glaube, wertvolle Zeit zu verlieren – als würde ich die endlosen Minuten, die ich eingekeilt zwischen Urlaubsbussen verplempere, dafür nutzen, Kunstwerke von weltverändernder Wucht und Wirkung zu erschaffen.
Ein Freund von mir ist gläubiger Christ, spendet ein Fünftel seines Einkommens an Amnesty International, und wenn ihm eine Mücke den Schlaf raubt, dann erschlägt er sie nicht, sondern fängt sie mit hohler Hand und lässt sie draußen frei. Im Stau aber wird er wortwörtlich verrückt. Er beschimpft bei geöffnetem |36| Fenster andere Autofahrer, die Verkehrsnachrichten, die Polizei, die Räumdienste und Gott und die Welt (na ja, mehr die Welt als Gott), und wenn hinter ihm ein kanariengelbes BM W-Cabrio im Schritttempo rollt, dann schaltet er die Scheibenwaschanlage an. Er war wegen seines Stau-Irrsinns sogar einmal bei einer Psychologin. Sie hat irgendwas von »Verlust der Selbstbestimmung« und »typisch männlicher Angst vor dem Aufgeben der Kontrolle« sowie, logisch, »Abgabe der Macht« gemurmelt und 200 Euro kassiert. Der Freund von mir fährt inzwischen nur noch Landstraße, egal, wohin die Reise geht.
Laura ist, da gibt es nichts, ein guter Staupartner. Sie legt mehr Langmut an den Tag. Keine Ahnung, wie sie das schafft. Frauen können sich besser in ihre eigene Welt zurückziehen und mit glasigen Augen vor sich hin starren. Ich brauche dazu immer eine Fernbedienung.
Einmal kam ich
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