Lebenschancen
war, kann man an der bis heute weitverbreiteten Formel vom »Wirtschaftswunder« ablesen. Aber: Ein Wunder kommt unerwartet und kann ebenso schnell wieder vorbei sein. Man kann sich seiner erfreuen, solange es anhält, sollte sich aber nicht zu sicher sein. Gerade angesichts der Dezimierung der Ersparnisse im Zuge der Hyperinflation nach dem Ersten Weltkrieg und der Währungsreform 1948, die vor allem Wertpapiere und Vermögen auf Bankkonten entwertete, waren viele Menschen skeptisch, ob die Wohlstandsgewinne tatsächlich von Dauer sein würden. Man setzte daher auf Inflationsbekämpfung und Geldwertstabilität, die bis heute wichtige Pfeiler der Politik darstellen.
Nach und nach begann die Gesellschaft jedoch, sich selbst als Wohlstandsgesellschaft zu verstehen (und zu gerieren). Man fasste Vertrauen, richtete sich in den Wohlstandskulissen ein. Auslandsreisen, noch dazu mit dem eigenen Kraftfahrzeug, gehörten bald zum Normalprogramm der breiten Massen. Familie Winkler aus Hannover, Mutter, Vater und zwei Töchter, fuhr mit ihrem Ford Taunus über den Brenner nach Rimini oder gar nach Griechenland und durfte Sonne und Strände genießen. Diese Reisen durch Europa schärften den vergleichenden Blick. Plötzlich kannte man die Welt aus eigener Anschauung, wusste, wie es sich woanders lebte. Das Gefühl der Besser- oder Schlechterstellung vermittelt sich schließlich vor allem durch den sozialen Vergleich. Viele Menschen stellten fest, dass Deutschland moderner und wohlhabender (geworden) war als andere europäische Länder. Nicht nur gemessen an der kleinen und ärmeren DDR , die der Westbesucher nicht selten mit nostalgischem Blick bereiste, und dem dahinter beginnenden Osten, sondern auch
im Vergleich zum Süden Europas durfte man sich zu den Begüterten zählen.
Damit gingen auch Veränderungen im Wertehaushalt der Gesellschaft einher. Während es in Phasen der Knappheit zuallererst um die Befriedigung grundlegender Bedürfnisse (und manchmal sogar ums nackte Überleben) geht, werden in saturierten und wohlhabenden Gesellschaften postmaterielle Werte wichtiger. Der wachsende Wohlstand schafft einen Sockel, auf dem sich Wünsche nach Selbstverwirklichung, Anerkennung und schöpferischer Tätigkeit erst ausbilden können (Inglehart 1977). Mit Erich Fromm könnte man sagen: Es geht weniger um das Haben und mehr um das Sein. Allerdings vollzieht sich ein solcher Wertewandel nicht von heute auf morgen, sondern über mehrere Generationen hinweg. Er ist Teil der Sozialisation. Diejenigen, die die Not des Krieges und der Nachkriegsjahre erfahren hatten, empfanden den Wohlstand der Wirtschaftswunderzeit noch als großes Glück, die nachfolgenden Generationen als Selbstverständlichkeit.
Die gesicherte Mitte
Wohlstandsgewinne sind aber nur eine Seite der Medaille bei der Herausbildung einer modernen Mittelschicht. Die andere Seite ist eng mit der sich ausweitenden Rolle des Staates verknüpft. Hier sind es Bedürfnisse nach Sicherheit, Vorsorge und Bildung, welche sich an staatliches Handeln richten und die soziale Lage der Mittelschicht mitbestimmen. Ihnen zugeordnet sind institutionelle Arrangements, etwa die Systeme der sozialen Sicherheit oder das Bildungssystem. Im Fall des deutschen Sozialstaats wurde die Garantie der Sicherheit zur zentralen regulativen Idee (Kaufmann 2003). Bei dieser geht es vor allem darum, die Kräfte des Marktes einzuhegen und Unsicherheiten einzudämmen. Als Gegenpart zur rein marktbasierten Verteilung von Lebenschan
cen entstand ein staatlich organisiertes Umverteilungssystem, welches korrigierend in Marktverteilungen eingreift und Kompensationsleistungen erbringt. Die Gründe für seine Entstehung und institutionelle Ausgestaltung sind vielfältig und sowohl politischer als auch ökonomischer Natur. Wichtig ist in diesem Zusammenhang die Einsicht, dass Märkte nicht (oder nur unzureichend) in der Lage sind, die sozialen Grundlagen, von denen sie zehren, zu reproduzieren. Zugleich sind Umverteilungsinstitutionen auch Agenturen der Pazifizierung und Partizipation. Über Teilhabeangebote werden innergesellschaftliche Konflikte abgeschwächt und befriedet. Durch politische Interventionen (etwa durch das Arbeitsrecht oder die Mitbestimmung) sowie die Schaffung von Sicherungsinstitutionen jenseits des Marktes konnte zudem die »tiefgreifende Unsicherheit der Einzelexistenz« beendet werden (Aichinger 1958: 68).
Im Falle des deutschen Sozialstaatsmodells gab es von Anfang an eine enge
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