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Lebenslang Ist Nicht Genug

Titel: Lebenslang Ist Nicht Genug Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Joy Fielding
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hin.
    »Ich möchte gern ein Weilchen allein sein«, bat Gail leise.
    »Aber Gail...«, wandte ihre Mutter besorgt ein.
    Jack kam ihr zu Hilfe. »Ich denke, Gail sollte sich etwas ausruhen. Geben wir ihr noch Zeit, alles erst einmal zu verkraften, hm?«
    Laura nickte. »Kommt, wir gehn einen Happen essen.« Damit komplimentierte sie einen nach dem anderen hinaus. Gail wandte den Kopf und sah ihnen nach. Laura stand in der Tür, und ihre Lippen formten lautlos einen aufmunternden Gruß. Gail dankte ihr mit einem Lächeln.
    Sie sah Mark und Julie, die beide noch kein Wort gesprochen
hatten, mit Jennifer hinausgehen. An der Tür löste Jennifer sich plötzlich aus dem schützenden Arm ihres Vaters und lief zu Gail zurück. Sie sank auf die Knie nieder und legte den Kopf in den Schoß ihrer Mutter. »O Mom«, schluchzte sie.
    »Ist ja gut, Spätzlein, ist ja gut«, tröstete Gail sie und strich begütigend über das weiche Haar ihrer Tochter. »Nicht weinen, Liebes, nur nicht weinen.«
    Jennifer sah zu ihrer Mutter auf. Gail wischte ihr die Tränen von den Wangen. »Darf ich heimkommen?« fragte Jennifer.
    Gail zog sie fest an sich. »Natürlich darfst du, aber sicher doch.«
    Jennifer stand auf und umarmte Jack, ehe sie wieder zu ihrem Vater trat.
    »Lila«, rief Gails Vater, »müssen wir denn immer auf dich warten?«
    »Wir sind bald wieder da«, versicherte Lila Harrington ihrer Tochter.
    »Soll ich auch gehen?« fragte Jack, als die anderen schon draußen standen.
    Gail streckte die Hand nach ihm aus. »Nein«, sagte sie leise. »Du sollst bei mir bleiben.«
    Gail verbrachte über eine Stunde damit, die Fotos des Mannes auf den Titelseiten der Zeitungen zu studieren. Das Gesicht eines Durchschnittsamerikaners, dachte sie, und dann fiel ihr ein, daß sie sich selbst früher ebenso charakterisiert hätte. Er wäre ihr nicht aufgefallen, auch wenn sie ein dutzendmal auf der Straße an ihm vorbeigegangen wäre.
    Er hatte keine besonderen Kennzeichen, sah weder gut aus, noch war er häßlich. Seine Augen waren weder auffallend groß noch sonderlich klein. Ihr Abstand voneinander war durchaus normal, und auf einem Foto lag sogar etwas wie ein Leuchten in ihnen, das zwar nicht unbedingt auf Intelligenz, aber doch auf Vitalität schließen ließ. Seine Nase war krumm, was aber nicht unangenehm wirkte. Anscheinend hatte er sie sich bei Schlägereien
mehrmals gebrochen, aber nie für ärztliche Behandlung Sorge getragen. Seine Lippen waren schmal und kräuselten sich zu einem wissenden kleinen Lächeln, das man beinahe ölig hätte nennen können. Sein glattes Haar war hellbraun und für die jetzige Mode etwas zu lang. Gail fand, er sehe weit weniger bedrohlich aus als der Junge mit dem Bürstenschnitt, dessen Zimmer sie durchsucht hatte. Er hatte abfallende Schultern, und auf den Fotos, wo er zwischen zwei Polizisten auf die Kamera zukam, schien sein Rücken gebeugt. Seine Hüften waren schmal. Gail fuhr sich mit den Fingern durchs Haar. Er sah so alltäglich aus.
    Ihr Blick wanderte von Foto zu Foto, und sie überflog die Bildunterschriften. Das war der Mann, der ihr sechsjähriges Kind vergewaltigt und erwürgt hatte, ein Mann, der selbst im Alter von fünf Jahren von seinem eigenen Vater mißbraucht worden war, ein Mann mit einem IQ knapp unter hundert - unterer Durchschnitt, aber durchaus normal. Normal, wiederholte Gail still für sich. Normal.
    Einen Moment lang versuchte sie sich vorzustellen, was für ein Leben dieser Mann geführt haben mochte, der durch Zufall in ein liebloses Zuhause hineingeboren worden war. Er hatte nicht darum gebeten, auf die Welt zu kommen. Er war gezeugt worden, geboren worden und war dann wehrlos den verrückten Launen seiner sogenannten Familie ausgesetzt. Ihr war klar, daß er nie eine wirkliche Chance gehabt hatte. Doch den Versuch, Mitleid mit ihm zu empfinden, gab sie rasch wieder auf. Sie war dazu einfach nicht fähig.
    Es gab bessere Menschen als sie, Gail wußte das, Menschen, die solche Grausamkeiten überleben und immer noch Mitgefühl für die Schuldigen aufbringen konnten. Aber zu denen gehörte sie nicht. Es war leichter, Verständnis zu zeigen, wenn das Schreckliche jemand anderem widerfuhr. Großmut ließ sich nur in der Theorie mühelos praktizieren. Wenn man hingegen selbst von der Tragödie betroffen wurde, ja wenn sie um ein Haar das eigene Heim zerstörte, sah der Fall anders aus. Nein, dachte Gail,
als sie die Zeitungen zusammenfaltete und weglegte, ich empfinde kein

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