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Lebenslügen / Roman

Lebenslügen / Roman

Titel: Lebenslügen / Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kate Atkinson
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weiß.«
    Joseph erwachte, und ihre Mutter knöpfte das Oberteil ihres erdbeergemusterten Kleides auf und stillte ihn. Er schlief wieder ein, während er trank. »Armes Lämmchen«, sagte ihre Mutter. »Er wird die Erkältung nicht los.« Sie legte ihn zurück in den Buggy und sagte: »Okay. Gehen wir nach Hause. Wir holen den Gartenschlauch, und ihr könnt euch abspritzen.«
     
    Er schien aus dem Nirgendwo aufzutauchen. Sie bemerkten ihn, weil der Hund knurrte, ein seltsames, gurgelndes Geräusch in seinem Hals, das Joanna nie zuvor gehört hatte.
    Er ging sehr schnell auf sie zu, wurde zunehmend größer. Er gab komische, laut schnaufende Laute von sich. Sie dachten, dass er an ihnen vorbeigehen und »Schöner Nachmittag« oder »Hallo« sagen würde, weil das die Leute immer sagten, wenn man ihnen auf den Wegen begegnete, aber er sagte nichts. Ihre Mutter sagte normalerweise »Schöner Tag« oder »Ist es nicht heiß?«, doch zu diesem Mann sagte sie nichts. Stattdessen ging sie schneller, kämpfte mit dem Buggy. Sie ließ die Plastiktüten mit den Einkäufen im Gras liegen, und Joanna wollte eine aufheben, aber ihre Mutter sagte: »Lass sie liegen.« In ihrer Stimme, in ihrem Gesicht war etwas, was Joanna Angst einjagte. Jessica nahm sie bei der Hand und sagte scharf wie eine Erwachsene: »Komm schon, Joanna.« Joanna erinnerte sich an damals, als ihre Mutter ihrem Vater den blauweißgestreiften Becher an den Kopf geworfen hatte.
    Der Mann ging jetzt in dieselbe Richtung wie sie, neben ihrer Mutter. Ihre Mutter lief nahezu und sagte »Kommt schon, schnell« zu ihnen. Sie klang atemlos. Der Hund lief vor den Mann und bellte und sprang an ihm hoch, als wollte er ihm den Weg versperren. Ohne Vorwarnung trat er so fest nach dem Hund, dass er durch die Luft flog und im Weizen landete. Sie sahen ihn nicht, aber sie hörten den schrecklichen, jaulenden Laut, den er ausstieß. Jessica stand vor dem Mann und schrie ihn an, deutete mit dem Finger auf ihn, rang nach Luft, als könnte sie nicht atmen, und dann lief sie ins Feld auf der Suche nach dem Hund.
    Alles war schlimm. Daran bestand kein Zweifel.
     
    Joanna starrte auf den Weizen, versuchte zu sehen, wo Jessica und der Hund verschwunden waren, und sie brauchte einen Augenblick, bis sie bemerkte, dass ihre Mutter mit dem Mann kämpfte, mit den Fäusten auf ihn einschlug. Aber der Mann hatte ein Messer, das er immer wieder in die Luft hob, so dass es in der heißen Nachmittagssonne wie Silber glänzte. Ihre Mutter begann zu schreien. Auf ihrem Gesicht, ihren Händen, ihren kräftigen Beinen, ihrem Erdbeerkleid war Blut. Dann wurde Joanna klar, dass ihre Mutter nicht den Mann anschrie, sondern sie.
    Ihre Mutter wurde niedergestochen, wo sie stand, das große silberne Messer schnitt durch ihr Herz, als würde es Fleisch auf der Metzgertheke schneiden. Sie war sechsunddreißig Jahre alt.
    Er musste auch auf Jessica eingestochen haben, bevor sie davonlief, denn es gab eine Blutspur, einen Pfad, der sie zu ihr führte, obwohl es dauerte, weil sich der Weizen wie eine goldene Decke um Jessica geschlossen hatte. Sie lag da, die Arme um den Hund geschlungen, und beider Blut hatte sich vermischt und die trockene Erde getränkt, das Korn genährt wie ein Opfer für die Ernte. Joseph starb, wo er war, in den Buggy geschnallt. Joanna wollte glauben, dass er nicht aufgewacht war, aber sie wusste es nicht.
    Und Joanna. Joanna gehorchte ihrer Mutter, als sie sie anschrie: »Lauf, Joanna, lauf.« Und Joanna rannte in das Feld und verschwand im Weizen.
     
    Später, als es dunkel war, kamen andere Hunde und fanden sie. Ein Fremder hob sie hoch und trug sie fort. »Sie hat keinen Kratzer«, hörte sie eine Stimme sagen. Die Sterne und der Mond glänzten hell am kalten schwarzen Himmel über ihrem Kopf.
    Natürlich hätte sie Joseph mitnehmen sollen, sie hätte ihn aus dem Buggy reißen oder mit dem Buggy davonlaufen sollen (Jessica hätte es getan). Es spielte keine Rolle, dass Joanna erst sechs Jahre alt war, dass sie es mit dem Buggy nie geschafft hätte, dass der Mann sie innerhalb von Sekunden erwischt hätte, darum ging es nicht. Es wäre besser gewesen, bei dem Versuch, das Baby zu retten, getötet zu werden, als es nicht zu versuchen und zu leben. Es wäre besser gewesen, mit Jessica und ihrer Mutter zu sterben, als allein zurückzubleiben. Doch daran dachte sie nicht, sie tat, was ihr aufgetragen war.
    »Lauf, Joanna, lauf«, befahl ihre Mutter. Und sie tat es.
    Es war komisch,

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