Lebenslügen / Roman
möglichen interessanten Dingen, Farbe und Terpentin und Tabak und nach dem Parfum ›Je Reviens‹, das ihr Vater ihr schenkte, seitdem sie siebzehn und ein »katholisches Schulmädchen« gewesen war, und das bedeutete »Ich komme wieder« und war eine Botschaft für sie. Ihre Mutter war laut ihrem Vater »eine Schönheit«, doch ihre Mutter sagte, sie sei »eine Malerin«, obwohl sie seit ihrem Umzug nach Devon nichts mehr gemalt hatte. »Für zwei Kreative ist in einer Ehe kein Platz«, sagte sie auf ihre unnachahmliche Art, hob die Augenbrauen und inhalierte den Rauch der kleinen braunen Cigarillos, die sie rauchte. Sie sprach es wie eine Ausländerin Sigarijo aus. Als Kind hatte sie an weitentfernten Orten gelebt, die sie ihnen eines Tages zeigen würde. Sie sei warmblütig, sagte sie, nicht wie ihr Vater, der ein Reptil sei. Ihre Mutter war schlau und komisch und steckte voller Überraschungen, ganz anders als die Mütter ihrer Freundinnen. »Exotisch«, sagte ihr Vater.
Der Streit, wer wonach roch, war offenbar noch nicht beendet, denn ihre Mutter nahm einen blauweißgestreiften Becher aus dem Schrank und warf ihn nach ihrem Vater, der am Tisch saß und auf seine Schreibmaschine starrte, als würden sich die Worte selbst schreiben, wenn er nur lange genug geduldig wartete. Der Becher traf ihn seitlich am Kopf, und er schrie vor Schreck und Schmerz auf. Mit einer Geschwindigkeit, die Joanna nur bewundern konnte, hob Jessica Joseph aus dem Kinderstuhl und sagte »Komm« zu Joanna, und sie gingen nach oben, wo sie Joseph auf Joannas und Jessicas Doppelbett legten und kitzelten. Im Zimmer gab es keine Heizung, und auf dem Bett lagen Berge von Daunenbetten und alten Mänteln ihrer Mutter. Irgendwann schliefen alle drei ein, aneinandergekuschelt in einer Geruchsmischung aus Feuchtigkeit, Mottenkugeln und ›Je Reviens‹.
Als Joanna aufwachte, saß Jessica an Kissen gelehnt da, sie trug Handschuhe, Ohrenschützer und einen Mantel vom Bett, in dem sie verschwand wie in einem Zelt. Sie las im Schein einer Taschenlampe ein Buch.
»Stromausfall«, sagte sie, ohne vom Buch aufzublicken. Von der anderen Seite der Wand hörten sie die schrecklichen Tierlaute, die bedeuteten, dass ihre Eltern sich wieder gut waren. Jessica hielt ihr wortlos die Ohrenschützer hin, damit sie sie nicht hören musste.
Als es endlich Frühling wurde, zog ihr Vater, statt einen Gemüsegarten anzulegen, zurück nach London zu »seiner anderen Frau« – und das war eine große Überraschung für Joanna und Jessica, wenn auch offenbar nicht für ihre Mutter. Die andere Frau ihres Vaters hieß Martina – die Dichterin –, ihre Mutter sprach den Namen aus, als wäre es ein Fluch. Ihre Mutter bedachte die andere Frau (die Dichterin) mit Namen, die so schlimm waren, dass sie in der Luft hingen wie Gift, wenn sie sich trauten, sie (Schlampe-Fotze-Hure-Dichterin) unter der Bettdecke zu flüstern.
Obwohl die Ehe jetzt nur noch aus einer Person bestand, malte ihre Mutter nicht.
Sie gingen im Gänsemarsch den Weg entlang, »wie die Indianer«, sagte ihre Mutter. Die Plastiktüten hingen von den Griffen des Buggys, und wenn ihre Mutter sie losließ, kippte er nach hinten.
»Wir müssen wie Flüchtlinge aussehen«, sagte sie. »Trotzdem sind wir guten Mutes«, fügte sie beschwingt hinzu. Sie würden am Ende des Sommers, »rechtzeitig zum Schulanfang«, in die Stadt zurückziehen.
»Gott sei Dank«, sagte Jessica auf die gleiche Art wie ihre Mutter.
Joseph schlief mit offenem Mund im Buggy, ein leises Röcheln in der Brust, weil er eine Sommergrippe nicht loswurde. Er war so heiß, dass ihre Mutter ihn bis auf die Windel auszog und Jessica auf seine dünnen Rippen blies, um den kleinen Körper abzukühlen, bis ihre Mutter sagte: »Weck ihn nicht auf.«
Die Luft war getränkt vom Gestank nach Gülle, und die Gerüche nach feuchtem Gras und Wiesenkerbel stiegen Joanna in die Nase, und sie musste niesen.
»Pech gehabt«, sagte ihre Mutter, »du hast meine Allergien geerbt.« Das dunkle Haar und die blasse Haut ihrer Mutter hatte Joseph geerbt, ihre grünen Augen und »Malerhände« Jessica. Joanna hatte die Allergien abbekommen. Pech gehabt. Joseph und ihre Mutter hatten außerdem am selben Tag Geburtstag, doch bislang hatte Joseph noch keinen Geburtstag gehabt. In einer Woche wäre der erste. »Das ist ein besonderer Geburtstag«, sagte ihre Mutter. Joanna hielt jeden Geburtstag für etwas Besonderes.
Ihre Mutter trug Joannas
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