Lebenslust: Wider die Diät-Sadisten, den Gesundheitswahn und den Fitness-Kult (German Edition)
versagen. Bei guten Gegenargumenten werde ich nicht zögern, meine Meinung zu ändern. »Es ist eine Voraussetzung des Menschseins …, dass der andere vielleicht nicht nur auch ein Recht hat, sondern vielleicht auch manchmal Recht haben könnte«, sagt Hans-Georg Gadamer.
Einige mögliche Missverständnisse möchte ich aber schon jetzt vermeiden. Wenn ich der Einfachheit halber von »Altreligionen« spreche und bisweilen dabei auch die Vergangenheitsform benutze, meine ich damit nicht, dass diese Religionen wirklich überholt oder verstorben seien. Vielmehr zeigen sie in vieler Hinsicht mehr Vitalität als die Gesundheitsreligion. In gewisser Weise gilt sogar: Altreligion minus Lebenslust gleich Gesundheitsreligion. Nicht nur der Begriff Altreligion wurde arg strapaziert, auch das arme Aachener Klinikum, bei dem ich mich in aller Form entschuldigen möchte. Um hier nicht missverstanden zu werden: Ich selbst würde mich gerne ohne weiteres dort behandeln lassen – und ich habe da auch schon mal ohne viele Hilfen einen Chefarzt gefunden. Vielleicht ist auch der Hinweis hilfreich, dass ich Chirurgen für außerordentlich gebildete Leute halte, die ich sehr bewundere, und dass ich westfälische Chirurgen ganz besonders liebenswürdig finde. Außerdem ist die genannte »Gesundheitskasse« eine Einrichtung, mit der ich nur die besten Erfahrungen gemacht habe. Schließlich bemerkte ich eine gewisse Hemmung bei der »Frauenstimme aus der Küche«. Ich erkläre hiermit feierlich, dass die Frauenstimme auch eine Männerstimme hätte sein können, und weise damit jeden Verdacht sexistischer Rollenfixierung weit von mir. Die Frauenstimme war nur deswegen eine Frauenstimme, weil sie bei Loriot eine Frauenstimme ist.
Ganz am Schluss noch ein Wort zur Lust. Mancher Leser wird sich gefragt haben, warum um Gottes willen ich einen so anrüchigen Ausdruck ins Zentrum meines Buches gestellt habe. Man hätte doch viel harmloser Freude dazu sagen können. – Nein, hätte man nicht! Ich habe gar nichts gegen Freude. Aber wenn man von auch sinnlicher Lust in rein geistige Freude flieht, lässt man Genüsse zurück, die mir wichtig sind. Gewiss, die Engel haben keine Lust, sondern die reine Freude. Aber wir sind nun einmal keine Engel, sondern leibhaftige Menschen und ich gestehe freimütig, dass ich lieber Mensch bin als Engel. Außerdem lesen Engel mutmaßlich keine Bücher. Daher war mir die den ganzen Menschen sinnlich und geistig ergreifende Lust so wichtig. Und besorgten Christen sei gesagt: Wenn sogar der heilige Thomas von Aquin ausdrücklich nicht einsieht, warum der liebe Gott die leibliche Lust denn geschaffen hat, wenn sie nicht auch gut sein soll, dann sollten auch wir getrost dem wohlbeleibten Kirchenlehrer folgen. Nicht bloß theoretisch, sondern existenziell hat Dietrich Bonhoeffer das vorgemacht: Nach entsetzlichen Folterungen, nach monatelanger Kerkerhaft, im Angesicht seines sicheren Todes dichtet er: »Doch willst Du uns noch einmal Freude schenken an dieser Welt und ihrer Sonne Glanz, dann woll’n wir des Vergangenen gedenken und dann gehört Dir unser Leben ganz.« Da geht es nicht um bloß geistige Freuden, sondern um sinnlich erfahrbare Freude an der Welt und Lust am Leben. Theoretische Unterscheidungen zwischen Lust und Freude, die umstandslos zur Aufteilung der Menschen in Lüstlinge und erfreuliche Menschen voranschreiten, haben mit der Wirklichkeit der heutigen Welt nichts zu tun. Menschen auf der Suche nach Lebenslust sind wohl wirklicher Religion näher als verhärmte Gestalten, die die Lust der Welt beklagen und himmlisches Glück im Lexikonartikel über die geistigen Freuden finden.
Nicht nur der Ausdruck »Lust«, auch das Wort »Spaß« klingt verdächtig. Junge Leute wollen angeblich entsetzlicherweise nichts als Spaß. Auch hier ist nicht die theoretische Definition entscheidend, sondern die praktische Verwendung des Ausdrucks. Wer »Freude« hat beim Musikantenstadl, der aktiviert dafür kein edleres Organ als Jugendliche, die bei irgendetwas »Spaß« haben. Und was junge Menschen mit »Spaß« meinen, ist keineswegs stets oberflächliches Geplätscher. Wenn gewisse Musik junge Leute ergreift und hinreißt und sie das »Spaß« nennen, was sie dabei empfinden, wenn sie »Spaß« daran haben, mit behinderten Freunden in Urlaub zu fahren, wenn sie »Spaß« daran haben, ein gutes Buch zu lesen, dann sind Donnertiraden gegen die Spaßgesellschaft ganz fehl am Platz. Um den ewigen Streit zwischen
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