Lebenslust: Wider die Diät-Sadisten, den Gesundheitswahn und den Fitness-Kult (German Edition)
Liebe von lustvoller erotischer Liebe unterscheiden. Die christliche Tradition ist eigentümlicherweise anderer Auffassung.
»Wenn das die himmlische Liebe ist, dann kenne ich sie auch!«, rief der französische Lebemann Charles de Brosses im 18. Jahrhundert aus, als er Gian Lorenzo Berninis berühmte Skulptur der heiligen Teresa von Avila in der Kirche Santa Maria della Vittoria in Rom erblickte. Was war geschehen? Hatte ausgerechnet Bernini, der fromme Großmeister des römischen Barock, eine schwache Stunde gehabt und für einen Moment vergessen, wen er abbildete und für welchen Ort? Die Wahrheit ist, dass der tief gläubige Künstler wahrscheinlich gar keine Angst vor derlei Missverständnissen gehabt hätte. Zugegeben, der weit gereiste Präsident de Brosses besaß wohl keinen sehr weiten Liebesbegriff und so wird er die Größe der heiligen Teresa und ihrer Art zu lieben nicht wirklich verstanden haben. Doch ganz sicher hätte Bernini keinerlei Probleme damit gehabt, dass seine Darstellung der heiligen Teresa in Ekstase als sinnlich erlebt würde. Die Visionen der temperamentvollen Heiligen waren es ja schließlich auch. Wir haben schon gehört, dass die Religion des Fleisch gewordenen Gottes traditionell keine Berührungsängste mit der Erotik hatte. Wenn Teresa ihre tiefsten religiösen Erlebnisse geradezu sinnlich, körperlich wahrnahm, dann wäre bei anderen Menschen durchaus auch das Umgekehrte denkbar: in der beglückenden sinnlich-sexuellen Liebe zwischen Mann und Frau Gotteserfahrung zu machen. »Gott ist die Liebe«, hatten wir schließlich oben schon aus dem 1. Johannesbrief zitiert. Und warum sollte ausgerechnet die tiefe körperlich-seelische Liebesvereinigung mit der Liebe nichts zu tun haben, die Gott selbst ist? Auch hier also sprengt das Erlebnis den Moment, in dem es geschieht. Sogar Friedrich Nietzsche, der sonst so sehr im Diesseits steht, hat das gespürt: »Doch alle Lust will Ewigkeit –, will tiefe, tiefe Ewigkeit«, lässt er seinen Zarathustra singen.
Allerdings meint das Christentum immer mehr als bloße Lust, die sich selbst genug ist. Es meint vitale, dynamische Lust, also Lebenslust. Am Anfang von Goethes »Faust« steht die ungestüme Sehnsucht des Faust nach einem sich selbst genügenden Moment. Um diesen zu erreichen, verschreibt er sich sogar dem Teufel: »Werd ich zum Augenblicke sagen: Verweile doch! Du bist so schön! Dann magst du mich in Fesseln schlagen, dann will ich gern zugrunde gehn!« Am Ende des Faust aber steht nicht das Ankommen an so einem, sich im Diesseits beruhigenden Moment, sondern über sich hinausgehende, sorgende Liebe – ein Deichbau zum Schutz für andere Menschen – und die berühmte Einsicht: »Wer immer strebend sich bemüht, den können wir erlösen.« Das Christentum aber geht noch weiter, es macht nicht Halt beim bloßen Streben. Es lebt aus der Gewissheit einer letzten Erfüllung in der Liebe zum Nächsten und zu Gott. Und im Erlebnis dieser Liebe »wollen« die Christen nicht bloß Ewigkeit, sie erleben sie bereits für Momente. Am Beginn der »Bekenntnisse« des heiligen Augustinus, des ersten psychologischen Buchs der Weltliteratur, steht der Satz: »Unruhig ist mein Herz, bis es ruht in dir, oh Gott.« Augustinus, der seine höchst persönlichen Erfahrungen mit der bloß sich selbst genügenden Lust hatte und das mit schonungsloser Offenheit bekannte, meint am Ende seines Lebens den weiten und großen Liebesbegriff, den Bernini in der sinnlichen heiligen Teresa Gestalt werden ließ, wenn er das Wesentliche der christlichen Botschaft mit den schon zitierten Worten zusammenfasst: »Liebe und im Übrigen tu, was du willst«, was allerdings gar nicht so einfach ist, wie es klingt. Denn sie ist nicht definierbar, sie ist nicht lehrbar, sie ist nicht herstellbar, die Liebe. Man kann sich um sie bemühen, aber sie ist letztlich ein Geschenk, man muss sie erleben. Und Liebe, die man mit Geist und Sinnen erlebt, ist Lebenslust in ihrer intensivsten Form.
III. Die Sehnsucht des Menschen nach Heil und Heilung
1. Schöpferische Spiritualität
Aus diesem Grund hat das Christentum auch keine Ratgeberliteratur über die Liebe hervorgebracht. Das Christentum glaubt nicht an irgendwelche Ideen, die in Büchern stehen. Wie Gott für die Christen keine Idee ist, sondern ein Mensch namens Jesus Christus – allerdings nicht nur ein Mensch –, so streben insbesondere katholische Christen auch nicht Ideen, sondern Menschen nach, nämlich so
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