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Lehrerzimmer

Lehrerzimmer

Titel: Lehrerzimmer Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Markus Orth
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hätte bislang noch keine Gelegenheit gefunden, keine Gelegenheit, unterbrach mich der Direktor, was das heißen solle, keine Gelegenheit, das sei nicht zu akzeptieren, ich sei doch bereits seit zwei Wochen davon unterrichtet, dass ich hierher, nach Göppingen, ans ERG
    kommen werde, keine Gelegenheit, sagte er, das sei alles andere als ein guter Start. Wann, fragte er, ich denn gedächte umzuziehen? So bald als möglich, sagte ich und beeilte mich hinzuzufügen, ich sähe vollkommen ein, dass die Entfernung zwischen Dienst- und Wohnort nicht die günstigste sei, allerdings, unterbrach mich der Direktor, das sei eine unverrückbare Tatsache, er lasse da nicht mit sich reden, wer hier arbeite, müsse auch hier wohnen, all seine Lehrer wohnten in Göppingen, er persönlich habe dafür gesorgt, dass all seine Lehrer in Göppingen wohnten, und auch ich käme nicht darum herum, in Göppingen zu wohnen, wenn ich hier, unter ihm, arbeiten wolle, Göppingen, sagte er, sei doch eine schöne Stadt. Ja, sagte ich, selbstverständlich würde ich mich bemühen, schnellstmöglich eine Wohnung zu finden, um die Scharte, welche ich mir mit dem fehlenden Göppinger
    Aufenthaltsplatz eingehandelt hätte, auszumerzen, dazu, sagte der Direktor, sei es freilich jetzt zu spät, er habe es quasi schon in die Beurteilung geschrieben, im Geiste sähe er die
    Beurteilung bereits vor sich, ich, Studienassessor Kranich, hätte es versäumt, zu Dienstantritt eine geeignete Wohnung am Dienstort vorzuweisen, mehr noch, Studienassessor Kranich sei sich bei Dienstantritt nicht der Tragweite der Beurteilung seitens des Direktors bewusst gewesen. Ich versuchte ihm, während er redete, einen demütigen Blick zuzuwerfen, aber es gelang mir nicht, zu sehr bewegte der Direktor seinen Kopf während der Ansprache hin und her, und jetzt schwieg er und überflog das Bewerbungsblatt. Ich hätte, sagte er, gar keine Klasse angegeben. Was für eine Klasse? fragte ich. Eine Klasse, für die ich als Klassenlehrer verantwortlich zeichnen wolle. Ich, sagte ich, hätte gedacht, dass ich als
    Neuankömmling vielleicht zunächst, das wäre ja noch schöner, unterbrach er mich, gerade als junger Lehrer sei es schlichtweg meine Pflicht, eine Klasse zu übernehmen, das fange ja gut an, gleich zu Beginn wolle ich mich den
    schwierigen Aufgaben entziehen, keine Klasse, sagte er und schrieb etwas auf seinen Block, dabei brach ihm der Bleistift ab, er griff nach einem Spitzer, spitzte den Bleistift, nahm den Block, auf dem die abgespitzten Bleistiftwinden lagen, führte ihn zum Mülleimer, schob die Bleistiftwinden hinab, pustete dann die Reste des Bleis vom Block, legte den Block neben sich, sah noch einmal auf das Blatt, las, was er geschrieben hatte, riss das Blatt dann ab und legte es in eine der Ablageschalen zu seiner Linken, ehe er sich mir wieder zuwandte. Er wolle nun ganz offen zu mir sprechen, sagte er.
    Nach allem, was schon vorgefallen sei, rate er mir aufzuhören.
    Noch ehe ich angefangen hätte. Noch ehe ich auf den
    Lehrerzug aufgesprungen sei, solle ich kehrtmachen,
    weggehen, mich anderweitig betätigen, alles, nur nicht Lehrer.
    Er habe sich gestern ein Kontrollvideo von Schulstunden angesehen, die ich im Referendariat gehalten hätte, grauenhaft, sagte er, grauenvoll, ganz und gar unbrauchbar, in jeder Hinsicht als Lehrer eine Niete, die Fragetechnik, sagte er, unglaublich, Fragetechnik nicht vorhanden, die ganze
    Schulstunde ohne erkennbare Fragetechnik, die Fragetechnik, sagte er, sei das wesentliche Merkmal, das einen guten Lehrer auszeichne, die Fragetechnik sei alles. Es gehe ja schließlich darum, die Schüler dorthin zu führen, wo man sie haben wolle, sie mit den Fragen so in die Enge zu treiben, dass schließlich nur noch die einzig richtige Antwort übrig bleibe, die Lösung.
    Nur dann könne man den Schüler, der als Erster in die Falle getappt sei, belohnen. Ob ich noch nie den Gesprächen der Schüler nach einer Prüfungsarbeit gelauscht hätte? Alles drehe sich in solchen Gesprächen darum, herauszubekommen, was der Lehrer habe hören wollen, alles drehe sich um die sogenannte Lösungserwartung. Nein, Lehrer sei gewiss nicht der Beruf, der für mich als erstrebenswert zu bezeichnen sei, fuhr der Direktor fort, meine Fragen seien viel zu offen gewesen, in jeder Hinsicht, dieses Schweigen, fast eine Minute lang, Frage gestellt, eine Minute geschwiegen, ineffizient, bringe nichts, das sehe man doch, das müsse man doch
    merken. Die Schüler

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