Lehrerzimmer
erschrocken, dass ich beim ersten Läuten nichts tun konnte.
Beim zweiten Läuten krampfte sich meine Hand um den
Hörer, ich stellte aber fest, dass die Kordel, die mir um den Hals hing, zu kurz war, um den Hörer direkt ans Ohr zu führen, ich musste mir die Schnur erst wie eine Kette abstreifen, ehe ich die Taste drücken konnte, und das dritte Läuten verstrich, weil ich mich dabei verhedderte, dann aber hatte ich das Telefon am Ohr und krächzte: Ja? Es war meine Mutter. Ich war sprachlos. Sie erzählte mir irgendetwas, das nicht in mein Bewusstsein drang. Nach einigen Sekunden unterbrach ich sie. Ob sie wahnsinnig sei? rief ich. Wie könne sie anrufen, jetzt, um zehn Uhr zwanzig? Ob sie nicht wisse, dass zu dieser Zeit die Anrufwahrscheinlichkeit am höchsten sei? Ob sie nicht wisse, in welchem Zeitraum ich mich
befände? Ich drückte sie weg. Zwanzig Sekunden waren
verstrichen. Was, dachte ich, wenn der Koordinator gerade zum selben Zeitpunkt angerufen hatte wie meine Mutter? In jenen zwanzig Sekunden? Was, dachte ich, wenn er das
Besetztzeichen gehört, sofort aufgelegt und den nächsten Kandidaten auf der Liste angerufen hatte? Ich verfluchte mich für meine Langsamkeit. Ich sagte mir, ich hätte die Leitung sofort kappen müssen, gleich, unmittelbar nach den ersten Worten meiner Mutter, unmittelbar nachdem sie gesagt hatte Ich bin es, hätte ich schon die Taste drücken und das Telefon wieder freigeben müssen, aber nein, ich hatte mich zu dieser sinnlosen Kommunikation hinreißen lassen und wertvolle Zeit verloren. Doch ich wusste nun, was zu tun war. Ich dachte, ich darf mich nicht überraschen lassen, ich muss ruhiger werden, konzentrierter. Ich schnitt mir eine neue, längere Schnur zurecht, die mir beim Abnehmen nicht so viel Mühe bereitete.
Ich meditierte fortan einige Stunden am Tag, um den Anruf in der gebührenden Ruhe entgegennehmen zu können. Ich hielt, sooft es möglich war, das Telefon bereits in der rechten Hand, um beim Läuten keine unnützen Sekunden verstreichen zu lassen. Ich schrieb einen großen Zettel und legte ihn auf den Wohnzimmertisch. Keine Anrufe beantworten, stand da, außer dem einen. Und der erreichte mich am 20. August um siebzehn Uhr vierundzwanzig. Ich saß vorm Fernseher und blieb ruhig.
In einer stundenlang eingeübten Prozedur nahm ich den Hörer vom Hals, meldete mich, und als ich das Wort Oberschulamt vernahm, rutschte ich von der Couch und fiel auf die Knie.
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Ich durchquerte die Unterführung, sah weiß geschrubbte Kacheln, Wassertropfen, ein alter Mann spielte Akkordeon und sang etwas von Heimatland, ich blieb kurz stehen und warf ihm ein Geldstück in die Tirolermütze. Dann stieg ich zur Brücke hoch, überquerte den kleinen Fluss namens Fils, ging die Johnstraße entlang, Automotoren, Dreck, Luft, kaum zu atmen. Beim Restaurant Frühlingstau baute ein Kellner Sonnenschirme auf. Ich bog ab, nach rechts: die Schule. Ich betrat das Sekretariat und sagte, ich wolle zum Direktor. Ich hätte, fügte ich hinzu, einen Termin, um elf Uhr. Der Direktor, so die Antwort, sei in einer Besprechung. Ich wartete und besah mir die Sekretariatstheke und die Fotos, die an der Wand hingen: Lehrer mit Leinen um den Hälsen, im Vordergrund zwei Männer, einer dick, einer groß, sie hielten die Leinen in den Händen, auf dem Kopf eine Kappe mit den Buchstaben OSA. Wenig später wurde ich ins Zimmer des Direktors
gerufen. Der Direktor wies auf einen Stuhl ihm gegenüber. Ich setzte mich. Er sei, sagte der Direktor, der Mann, der meine Beurteilung schreiben werde. Welche Beurteilung? fragte ich höflich. Er sagte, die Beurteilung am Ende des Jahres, am Ende eines jeden Jahres, er, der Direktor, schreibe sie, er, persönlich. Die Beurteilung, sagte er, entscheide über Wohl und Wehe meiner Laufbahn. Es sei, fügte er hinzu, ein Unding, dass ich nicht wisse, was es mit der Beurteilung auf sich habe, die Beurteilung, sagte er, sei das Wichtigste für die Lehrer, nur um die Beurteilung gehe es ihnen, nichts sonst habe irgendeine Bedeutung für sie. Über all meine Schritte werde er sich auf dem Laufenden halten, fügte er hinzu, nichts, sagte er, werde ihm verborgen bleiben, alles werde am Ende des Schuljahrs offen vor ihm liegen, und gerade von Neuankömmlingen
mache er sich pflichtgemäß ein besonders detailliertes Bild.
Ich nickte ihm zu und rührte mich nicht. Warum, fragte der Direktor nun, während er mich musterte, warum ich nicht in Göppingen wohnte? Ich sagte, ich
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