Lemmings Zorn
Stahlrohrbrücke über das Wasser, ein architektonisches Irrlicht, das von sorgsamen Stadtgärtnern mit Efeu kaschiert worden ist. Wobei dieser Steg einen Vorteil besitzt: Man kann ihn auch nachts benützen …
Immer deutlicher werden die Kampfgeräusche, als sich der Lemming und Polivka zügig der Mitte des Übergangs nähern. Und dann, nur wenige Schritte entfernt, taucht das Bild aus der Nebelwand auf: ein Bild wie geträumt, wie auf aschgraues Leinen lasiert. Drei Männer, so fest ineinander verkeilt, dass sie aussehen, als wären sie ein einziges, seltsam amorphes Geschöpf. Es schwankt hin und her, es taumelt und torkelt und stöhnt, es neigt sich mit rasselndem Atem zum Brückengeländer und presst sich dagegen. Füße scharren wild auf dem Asphalt.
«Um Gottes willen!», stößt der Lemming hervor.
Um Gottes willen.
Schon verliert es den Halt, das Geschöpf, kippt schwerfällig über die Brüstung. Und jetzt erst, in dieser Sekunde, beginnt es zu schreien: ein Schrei des Entsetzens, der gellend in den Winterhimmel steigt.
Ein einziger Schrei, eine einzige Kehle.
Der Schrei Hannes Gartners.
Nebelschwaden ziehen über das bleierne Band des Kanals. Der Lemming und Polivka, übers Geländer gebeugt, starren aufs Wasser hinunter.
Es ist Polivka, der – nach langen Minuten des Schweigens – als Erster seine Sprache wiederfindet.
«Reinigung brauchen S’ jetzt keine mehr zahlen …», brummt er lakonisch.
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Die Reine Wahrheit vom 29. Dezember 2004
EISIGER TOD IM KANAL
Zu unfassbaren Szenen kam es vorgestern Abend auf dem Rossauer Steg zwischen dem 9. und dem 20. Wiener Gemeindebezirk. Der beliebte Geschäftsmann Hannes G. (38) überquerte gerade die Brücke, als er zur Zielscheibe eines brutalen und hinterhältigen Anschlags wurde. Zwei Männer, der beschäftigungslose und vorbestrafte Frank L. (36) und der Rentner Paul S. (67) fielen plötzlich über den Ahnungslosen her und rissen ihn in die eisigen Fluten des Donaukanals. Während die Leiche des offenbar geistig verwirrten Paul S. gestern früh geborgen werden konnte, fehlt von seinem Komplizen Frank L. bislang jede Spur. Das Opfer selbst hatte gottlob einen Schutzengel: Nachdemes Hannes G. mit letzter Kraft gelungen war, das Ufer zu erreichen, wurde er mit leichten Erfrierungen ins Krankenhaus gebracht.
Der Winter scheint sich heuer seiner alten Tugend zu besinnen. So, als hätte er einen Kinofilm über sich selbst gesehen, der die Erinnerung an seine einstige Kraft wiederaufleben lässt. Ein Greis, der noch einmal den Boogie tanzt. Dicht fällt der Schnee und verwandelt die Bäume und Sträucher in flaumige Wolken aus Zuckerwatte.
«Denkst du, er lebt noch, der Lehner?» Klara faltet die Zeitung zusammen, einmal längs und zweimal quer; so wie man etwas zusammenfaltet, das man nie wieder öffnen will. Schiebt sie dann weit von sich weg in die Mitte des Küchentischs.
«Ich weiß nicht. Aber falls er’s geschafft hat, da irgendwie rauszukommen …»
«Wird sich die Ratte warm anziehen müssen», nimmt Klara dem Lemming das Wort aus dem Mund.
«Diese eine Ratte vielleicht.» Der Lemming steht auf und wirft die Zeitung in den Altpapierkarton, der neben dem Herd auf dem Boden steht. «Wusstest du, dass es in Wien mehr Ratten als Menschen gibt?»
«Nicht nur in Wien, Poldi, nicht nur in Wien. Da kannst du hingehen, wo du willst, denen kommst du nicht aus …»
«Ugugl!», mischt sich nun auch Ben in das Gespräch. Er sitzt in Castros Hundekorb und spielt mit Bernatzkys Patella. Jetzt lässt er die Kniescheibe fallen und streckt dem Lemming die Arme entgegen. «Papapa», sagt er klar und deutlich.
Schon im Begriff, den Kleinen aus dem Korb zu heben, hält der Lemming inne. Starrt Benjamin fassungslos an und wirbelt zu Klara herum. «Hast du’s gehört?»
«Was denn? Was meinst du?»
«Na, was der Kleine gerade … Komm schon, mein Held, sag’s noch einmal!»
«Ugugl!», kräht Benjamin lauthals. Er deutet zum Fenster, auf dessen Scheibe ein prächtiger Garten aus Eisblumen glitzert.
«Ich glaub, er will hinaus, einen Schneemann bauen», grinst Klara. «Gehst du mit ihm? Ich mach uns derweil einen heißen Kaffee.»
Auf der Wiese, hei, juchee,
steht ein weißer Mann aus Schnee.
Friert und zittert unentwegt,
weil er keine Kleider trägt.
Schneemann, Schneemann, armer Mann,
hast nur einen Kochtopf an.
Darum, Kinder, lasst euch sagen,
sollt ihr warme Kleider tragen.
Setzt euch hurtig auf die Mützen,
die
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