Lemmings Zorn
ein weiterer, halbhoher Paravent, hinter dem eine lindgrün beleuchtete Küchenzeile verläuft: Elektroherd, Spültisch, Stellagen, aber vor allem ein mächtiger Kühlschrank aus Edelstahl, gute zwei Meter hoch. Dazu ein rustikaler Bauerntisch, der mit den Chrom- und Milchglasverbauten der Küche perfekt harmoniert. Kristallene Kelche und Teller. Ein bis obenhin bestücktes Weinregal – samtroter Glanz in den Flaschen …
Es wäre die reinste Idylle.
Und doch ist es die reinste Hölle.
Eine tobende, stampfende, brüllende Hölle. Im Dröhnen elektrischer Meißel, im donnernden Grollen von Schlagbohrern zittert die Luft; das wütende Kreischen von Trennscheiben lässt sie erschauern, vibrieren wie ein verendendes Tier. Sie kann nicht aus, die Luft, sie kann nicht flüchten: Gefangen in diesem verfluchten Gewölbe, durchdringt sie die Dinge und Menschen, als wäre sie auf der Suche nach einem Versteck, einem rettenden Zufluchtsort. Sie kriecht in die Augen, die Nase, die Haut, sie krallt sich ohnmächtig an den Organen fest, rüttelt sie bis zum Zerreißen. Nichts anderes ist mehr zu spüren als dieser pochende, krampfende Schmerz, der das Denken und Fühlen verwüstet, die Sinne zerstampft: Ein Zustand der völligen Sinnlosigkeit, deren Teil man nun ist – mit Haut und Haaren verschlungen von einem riesigen, alles beherrschenden Bösen. Gellen und Beben, außen und innen, nichts sonst: Das ist Angelas Hölle, Angelas Strafraum.
Polivka dreht sich zum Lemming, mit offenem Mund. Fast wirkt es so, als würde sein schütteres Haar in den Schallwellenflattern: Ein rüstiger Graukopf an Bord seiner Segeljacht, von einer steifen Brise über die See getrieben – klassische Werbung für Waschmittel, Glücksspiel und Vitaminpräparate.
Den Lemming selbst treibt nur eins: der Wunsch, dem Getöse ein Ende zu setzen. Ohne jede Vorsicht stürzt er in den Raum, läuft zur Kredenz, in der die Dioden flackern. Er drückt auf die Knöpfe, hektisch und wahllos, aber der Krach dauert an. Nur der Flachbildschirm leuchtet mit einem Mal auf, um Bilder von Palmen, azurblauem Wasser, exotischen Stränden zu zeigen. Ein dunkles Gesicht lacht mit gebleckten Perlenkettenzähnen in die Kamera. Darüber verschnörkelte Lettern, vermutlich der Titel des Films:
Märchenhaftes Khao Lak
–
Die Perle Thailands
.
Der Lemming richtet sich auf und sieht sich händeringend um. Irgendwo muss man ihn abstellen können, den Lärm. Erst jetzt fällt ihm auf, dass die Wände, ja selbst der Plafond und die Tür, mit Matten aus genopptem Schaumstoff überzogen sind: Der Engel hat wirklich an alles gedacht …
Auch Polivka ist nun hereingekommen, auch er lässt suchend den Blick schweifen. Macht dann einen kleinen Schritt nach links und öffnet ein unauffälliges, ebenfalls schaumstoffverkleidetes Türchen, das hier in der Mauer eingelassen ist. Ein Griff, und das Dröhnen erstirbt.
Die Stille klingt nach. Sie sirrt in den Ohren, lässt die geschundenen Sinne nur langsam zur Ruhe kommen. Wie diese Hochleistungssprinter, die auch nicht sofort nach dem Zieleinlauf stoppen. Der Lemming und Polivka schweigen; sie stehen da und lauschen tief in sich hinein, als klopften sie ihre Magenwände nach undichten Stellen ab.
«Bestens, bestens», sagt da eine Stimme. «Haben Sie mich doch noch gefunden …»
28
Ein Mann ist hinter der spanischen Wand hervorgetreten. Ein Mann, der auf verblüffende Weise der Schilderung Frank Lehners entspricht. Nicht groß und nicht klein, nicht dick und nicht dünn, nicht hässlich, nicht hübsch. Eine schlichte Frisur, die Haarfarbe unklar, am ehesten noch als ein blondes Brünett zu bezeichnen. Ein Mann, dessen Aussehen sofort dem Gedächtnis entschwindet, kaum dass man den Blick von ihm wendet. Und wenn man ihn ansieht, verliert er trotz allem den Halt, der Blick, gleitet unweigerlich ab an der völligen Unscheinbarkeit dieses Menschen.
«Die Herren sind doch von der Polizei, darf ich annehmen?»
Selbst den Klang seiner Stimme, denkt nun der Lemming erstaunt, könnte man schwerlich charakterisieren. Nicht hart und nicht weich, nicht hoch und nicht tief: ein Organ wie ein blinder Fleck seiner selbst. Die Garderobe des Mannes tut ihr Übriges: graubraune Stoffhosen, hellbeiges Hemd.
Das ist alles.
Ein Niemandsmann.
Wäre da nicht dieser Fußschmuck, das einzig Prägnante an seiner Erscheinung: ein eiserner Reifen ums Fußgelenk, an dem eine ebenso eiserne Kette hängt. In lockeren Schleifen führt sie zur
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