Letzte Rache: Thriller (German Edition)
Eins
Walter Poonoosamy, der als »Dog« bekannte Säufer, fand sich wieder einmal aus dem Wohnheim Parker House ausgesperrt und ging um die Ecke in die Drury Lane, wo er sich nach Norden wandte. Sein Ziel war das Gewirr von Straßen um das Britische Museum herum. Das Viertel war eine Touristenattraktion und strotzte regelrecht von billigen Fresslokalen, sodass die Ausbeute in aller Regel nicht schlecht war.
Man konnte Big Ben gerade ein Uhr schlagen hören, als Dog in die Great Russell Street einbog. Zu dieser nachtschlafenden Stunde war die Straße leer, ganz wie es ihm gefiel. Er musterte die schwarzen Plastiksäcke, die auf dem Gehsteig standen und darauf warteten, von Camdens heldenhaften Müllmännern eingesammelt zu werden. Die ersten Müllfahrzeuge würden hier gegen sieben Uhr morgens eintreffen, und dann wären die meisten Säcke geöffnet und der Abfall auf der ganzen Straße verteilt worden. Dog wusste aus bitterer Erfahrung, dass es der frühe Penner war, der sich die Reste sicherte. Der Hunger machte sich durch seinen Rausch bemerkbar, und er musste sich rasch an die Arbeit machen, bevor die Konkurrenz für das Straßenbüfett – die Stadtstreicher von der Tottenham Court Road und dem Russell Square – auftauchte. Jetzt war die beste Zeit, um nach Speiseresten, Klamotten oder anderen brauchbaren Kleinteilen zu stöbern, die von den Bewohnern dieses Viertels sonst noch in die schwarzen Säcke gestopft worden waren.
Nachdem Dog mehrere Alternativen erwogen hatte, näherte er sich einer Ansammlung von Müllsäcken, die neben einer Laterne auf der Ostseite der Straße vor einem indischen Restaurant namens Sitaaray übereinandergestapelt worden waren. Er zog ein Teppichmesser aus seiner Jackentasche, bückte sich und schlitzte vorsichtig den Beutel auf, der ihm am nächsten war. Nach ein paar Minuten sorgfältiger Sondierung hatte er einige anständige Häppchen sichergestellt: Lamm Shaami und Hühnchen Masala sowie zwei große Stücke Naan. Als Mahlzeit war das besser als alles, was ihm in dem Wohnheim vorgesetzt worden wäre, und es würde vorzüglich zu dem Rest in seiner Zwei-Liter-Flasche Diamond White Cider passen, den er sich vom Vorabend aufgespart hatte. Nachdem er die Straße in beiden Richtungen inspiziert hatte, um sich zu vergewissern, dass niemand Zeuge seines Glücks geworden war, sprach Dog ein stilles Dankgebet für die unendliche Großzügigkeit der Stadt, bevor er sich in die Dunkelheit einer nahe gelegenen Gasse an der Rückseite eines riesigen Blocks mit Eigentumswohnungen zurückzog, um sich seinem Festessen zu widmen.
Zwei
Agatha Mills, die immer noch angezogen und nicht müde genug war, um ins Bett zu gehen, stand an ihrem Wohnzimmerfenster und schaute auf die mit Flutlicht angestrahlte Pracht des Britischen Museums. Die Aussicht war das Beste an der Eigentumswohnung, besonders bei Nacht; sie verbrachte viel Zeit damit, seine ionischen Säulen und die Skulpturen im Giebeldreieck über dem Haupteingang zu betrachten, die den Fortschritt der Zivilisation darstellten.
Schöner Fortschritt, dachte Agatha traurig und schüttelte den Kopf.
Diese Aussicht war der Grund dafür gewesen, dass sie sich in die Wohnung verliebt hatte, als Henry und sie sie vor fast vierzig Jahren zum ersten Mal in Augenschein nahmen. Sie hatte ihn bedrängt, den in der Anzeige geforderten Preis sofort zu bezahlen, obwohl sie es sich nicht leisten konnten. Er war damals sehr mürrisch gewesen, und darüber konnte sie auch heute noch lächeln. Denn als sich im Lauf der Jahre immer deutlicher herausstellte, dass die Wohnung die einzige rentable finanzielle Investition war, die sie in ihrem ganzen Leben getätigt hatten, hatte ihr Mann eingelenkt und liebenswürdig akzeptiert, dass sie recht gehabt hatte.
Für Agatha war ihre Freude in der Great Russell Street allerdings immer von Traurigkeit getrübt gewesen. Seit diesem ersten Besuch hatte sie davon geträumt, ihre eigenen Kinder die Treppe hinunter, über die Straße und in das Museum zu begleiten. Sie hatte sich Picknicks im Innenhof und saumselige Nachmittage vorgestellt, die sie zwischen den ägyptischen Mumien oder den römischen Kunstschätzen verbrachten. Wenn sie seinerzeit gewusst hätte, dass es keine Kinder geben würde, wäre sie am Boden zerstört gewesen. Selbst heute spürte sie einen scharfen Stich des Bedauerns, von dem sie wusste, dass er nie verschwinden würde.
Doch im Haushalt der Mills herrschte ein stoischer Pragmatismus: Man musste
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