Letzte Reise
anderen Seite der Bucht fallen Schüsse. Die Frauen schreien, sie lassen ihren König nicht gehen. Drohend rücken die Insulaner vor, alle bewegen sich durcheinander, man fühlt die von den Körpern abstrahlende Wärme. Ein Nicken zu den Marinesoldaten, und sie heben ihre Waffen. Die Eingeborenen knurren, heben Steine und Stöcke vom Boden auf; sie strecken die Zungen heraus und rollen mit den weit aufgerissenen Augen. Ein Dolch, der Stahl blitzt im Sonnenlicht; der Stoß ist nur mit Mühe zu parieren. Es ist die Einladung zu einem Schuß. Feuer! Jetzt ist Krieg, jetzt stürzen sie sich von allen Seiten auf uns, ein unentwirrbares Knäuel aus Soldaten in roten Jacken und Eingeborenen in Kampfmatten aus Schilf tanzt auf dem schwarzen Strand. Wir müssen zum Beiboot fliehen, sagt der Kommandeur der Marinesoldaten, das geht nicht ohne Blutvergießen aus, Mission gescheitert.
Im Gegenteil. Ich gebe dem dummen Williamson im Beiboot ein Zeichen, schießen, los, wir brauchen Rückendeckung. Rücken? Ja, ich befehle den Soldaten, sich mit mir umzudrehen, und wir stehen in Reih und Glied entlang dem Wasserrand der rasenden Eingeborenenmeute gegenüber. Anlegen! Feuern! brülle ich den Männern zu. Sie zögern, blicken erstaunt, aber gehorchen schließlich. Ich mache mit. Kein Schrot, sondern Kugeln. Ein Hawaiianer nach dem anderen fällt, wir mähen sie einfach um. Als Verwirrung und Wut ihren Höhepunkt erreichen, spüre ich, daß der Moment gekommen ist.
Ich lasse meine Waffe sinken und drehe mich um. Ich wußte die ganze Zeit das Wasser hinter mir, wie es sich ausstreckte, Welle nach Welle, wie es mit einem Seufzer vom Vulkansand aufgesogen wurde. Jetzt setze ich, langsam, mit behäbiger Achtlosigkeit, die Füße auf den feuchten Boden. Sonnenlicht blinkt auf den beweglichen kleinen Wellen, es spiegelt sich in meinen goldenen Knöpfen, es wärmt meinen Rücken. Das Beiboot hat sich weit von der Küste entfernt, wie vorhergesehen wünschte dieser dämliche Leutnant meine Gebärde nicht zu verstehen.
Beinahe rutsche ich auf den mit Algen überwucherten Steinen aus. Ich kann zum Glück das Gleichgewicht wahren. Das muß sein, es geht nicht an, selbst zu fallen, so soll es sich nicht fügen. Seelenruhig schreite ich ins Meer hinein. Noch wenige Augenblicke, dann wird der Stein meinen Kopf treffen, das Messer meinen Rücken aufschlitzen; noch ein Moment, und ich falle erlöst in meine Zukunft, um wahrhaft heimzukehren …
Schritt für Schritt stieg sie die Treppe hinauf. Seit Isaacs Tod kam sie nur noch selten in ihr altes Schlafzimmer mit den großen, auf den Obstgarten hinausgehenden Fenstern. Sie schlief jetzt unten, wie es einer Frau von über neunzig geziemte, umgeben von Zeichnungen und Gemälden aus Isaacs Sammlung an den Wänden. Lauter Eisberge und Seestücke. Er hatte nie befriedigend erläutern können, warum ihn die Kälte so faszinierte; der Frost beißt dir in die Wangen, sagte er, die Eisberge segeln still vorüber, bis unverhofft einer umkippt und eine Flutwelle auslöst.
Er war zufrieden gestorben, Konteradmiral Isaac Smith, ihr Freund und Hausgenosse.
Sie trauerte kaum um ihn; es war, als spitze sich alles zu einem möglichst kahlen Ende zu. Leere zu schaffen war das einzige, was sie beschäftigte.
Sie sah sich in dem Standspiegel: eine kerzengerade, hagere Frau in Schwarz. Goldene Ringe an den kräftigen Fingern, graues Haar, im Nacken zum Knoten gerollt und zusammengesteckt, ausgebleichte Augenbrauen. Der Blick aus den dunklen Augen noch scharf, doch von Distanz zeugend.
Sie öffnete den Wandschrank und zog die Kiste hervor. Der Schlüssel hing noch an ihrem Schlüsselbund, er paßte, das Schloß klickte mühelos auf. Jetzt vorausdenken, sie mußte etwas haben, worin sie die Papiere bergen konnte. Kissenbezug. Sie zog ein Bänkchen heran und setzte sich mit dem Bezug auf dem Schoß neben die Kiste. Stapel von Dokumenten hob sie aus ihrem Versteck: den Briefwechsel mit Hugh Palliser, die Briefe von James, den von dem Pelzhändler zugestellten Bericht Clerkes und schließlich das geheime Logbuch. Bei den Briefen von Jamie und Nat zögerte sie einen Moment, bis sie auch diese in den zusehends praller werdenden Bezug stopfte.
Die rote Weste mit Silbergarn ließ sie liegen.
Der Frost war noch nicht aus dem Boden, doch durch den Überschwang des Sonnenlichts schien im Obstgarten schon der Frühling eingekehrt zu sein. Im hinteren Teil, an der Mauer aus quergeschichteten flachen Steinen, stand der
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