Das Paradies
|7| 1. Siedlung
Ein Indianer besteigt einen Hügel, strauchelt, hält sich an Grasbüschel und Wacholderbüschen fest. Oben stützt er sich gegen den Wind. Die Augen gehen auf, die Sonne geht auf. In der Ferne kann er andere Hügel sehen, weite Felder. Damit es angenehmer ist, legt er ein Kissen auf die Gleise und seinen Kopf darauf. Er schüttelt das Kissen noch einmal auf, testet die richtige Position für seinen Körper. Quer über die Gleise. Er braucht den Überblick. So ist es gut, so kann man lange liegen. Er weiß nicht genau, wann ein Zug kommt, es gibt keinen genauen Plan, er wird es dann hören. Eine Hand bindet er am Gleis fest.
Um drei Uhr nachmittags ist der große Platz gesperrt. In der Mitte unseres Plattenbauviertels wird ein gigantischer Supermarkt eröffnet. Endlich. Es ist nicht der erste Supermarkt, den wir sehen, aber der größte, ein Labyrinth, ein Disneyland für den täglichen Bedarf. Es heißt, es soll eine richtige Spielzeugabteilung geben. Fleischtheken, deren Ende man nicht sehen kann. Das ganze Viertel ist gekommen. Auf dem Vorplatz versammeln sie sich, orientieren sich an Bratwurstständen, an kostenlosen Schutzhüllen für eine künftige EC-Karte, die verteilt werden (»Mama, was ist das?« – »Eine |8| Schutzhülle für eine EC-Karte.« – »Was ist eine Schutzhülle für eine EC-Karte?« – »Eine Schutzhülle für eine EC-Karte, was sonst?«). Von der Bank natürlich, die nebenan auch eröffnet. Kugelschreiber und Kredite gibt es auch, kostenlos. Fast. Überall muss man was unterschreiben und kann dann Zettel mitnehmen und Kugelschreiber und Schutzhüllen. Versicherungen auch. Obwohl man da inzwischen skeptisch geworden ist. Aber der Einstieg in die Finanzwelt ist reizvoll. Aktien, Fonds, alles ist möglich. Ich träume, dass wir in einem weißen Haus auf einer großen grünen Wiese wohnen werden. Vielleicht auch mit einer Terrasse mit fest installiertem Grillplatz und Grillzange.
Luftballons mit dem Supermarktlogo hängen an Plastikmarkisen, Schlager donnern metallen über den Platz mit den großen, aufgerissenen Betonplatten. Es ist Februar 1995 in Weimar, in der größten Plattenbausiedlung der Stadt, und ohne es richtig mitzubekommen, beiße ich in einen Pfannkuchen mit Senffüllung.
Eine Schlange bildet sich vor dem Eingang. Man solle endlich die Türen öffnen, ruft einer und lacht. Wir frieren. Meine Mutter prüft ihren Einkaufszettel. Die meisten haben ein Faschingskostüm an. Marienkäfer sind viele Frauen, vor allem die Kindergärtnerinnen oder Lehrerinnen oder Krankenschwestern. Als Indianer gehen die Kinder. Wer Arbeit hat, den erkennt man am Faschingskostüm, das heute schon im Betrieb vorgeführt wurde, die meisten sind schon ein bisschen alkoholisiert. »Siehste, im Kapitalismus musste och warten.« Dann geht die automatische Tür auf, Menschen in weißen Kitteln stehen am Eingang und begrüßen die Menge, von der sie sofort umgerannt werden.
Meterhohe Regale, Produkte wie nach Farben geordnet. |9| Wir stehen vor den Regalen wie vor einer Goldader. Damit hat niemand gerechnet. Erst einmal stehen alle lange in der Gemüseabteilung, die gleich am Eingang ist. So viele Möglichkeiten, so viele Gänge, die man wählen kann, dass sich niemand bewegt. Aus den Lautsprechern dudelt Radiomusik. Durchsagen: »Herzlich willkommen im Globus-Supermarkt.«
»Wo gibt’s denn hier Tinte für den Füllfederhalter?«, fragt meine Mutter eine Frau im weißen Kittel, die Pakete aufreißt. »Reichlich vorhanden«, sagt sie. »Reichlich« sagt sie, als wäre das etwas ganz Neues, sie sagt es in jedem Satz, reichlich Platz, reichlich Zeit, als sage man das als neue Bundesbürgerin.
»Reichlich« ist irgendwie untertrieben. Ein großes Regal verschiedener Größen und Formen, Farben und Verpackungen strahlt uns entgegen. Meine Mutter zieht aus ihrer Jackentasche eine leere, alte, zerknitterte Pelikan-Packung und vergleicht diese mit denen im Regal. Sie prüft jede Reihe, wühlt sich in die Tiefen des Regals hinein wie eine besessene Schatzgräberin. Ich lehne am Wagen. Dann scheint sie gefunden zu haben, was sie sucht, und schmeißt es in den Wagen, die leere Packung steckt sie in die Jackentasche.
Wir schieben unseren Wagen durch die Reihen, links und rechts leuchtende Suppendosen, viele verschiedene Arten von Klopapier. Dreilagig normal, dreilagig de luxe, vierlagig Luxusplüsch, Feuchttücher. »Das ist ja auch eine ganz schöne Verschwendung!«, sagt meine Mutter,
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