Letzte Reise
hatten sich irgendwo vor einem Regenschauer untergestellt, in einer Galerie mit Säulen wie Buchenstämmen, der Wind blies einen Laubteppich über die Fliesen, es sah aus wie ein Wald, wo jeden Moment ein Hirsch vorüberstürmen konnte, es war eiskalt, doch sie schwitzte, weil sie mit seinen großen Schritten hatte mithalten müssen, er hatte ihr die Haare aus dem Gesicht gestrichen und sich zu ihr herabgebeugt.
Seltsamerweise hatte sie nicht das Gefühl gehabt, daß er sie drängte, was er, im nachhinein betrachtet, sehr wohl getan hatte. Er war noch keine Woche von einer schweren Kartierungsreise in Neufundland zurück und wollte seinen nächsten Auftrag als verheirateter Mann angehen. Er war vierunddreißig. Sie war einundzwanzig. Aber er zwang sie nicht.
Er untersuchte. Er schaute. Er beobachtete von ganz nah, so nah, daß sie jedes einzelne Härchen seiner schweren Augenbrauen sehen konnte, die kleinen roten Äderchen in seinen straffen Wangen und die blitzenden Zähne hinter seinen schmalen Lippen. Noch nie hatte sie sich so konzentriert und wohlmeinend betrachtet gefühlt. Seine Finger, trotz des kalten Regens warm, streichelten ihre Ohrmuscheln. Er nahm ihr nasses Gesicht zwischen seine Handflächen. Ja, so war es gegangen. Er hatte ihre Lider geküßt. Er hatte ihren Namen geflüstert. Sie hatte sich von sich aus in seine Arme geschmiegt, hatte ihren Körper von sich aus an den seinen gedrückt, einen Schritt auf ihn zugemacht hatte sie, es geschah einfach. Es war, als habe er sich in der Umarmung verändert, als habe er nicht länger der Beobachter sein können und sich endlich in das verloren, was in dem Moment zählte – und das war sie.
Der Kuß. Der Kuß, der dauerte und dauerte, aber keine wirkliche Zeit in Anspruch nahm. Da war nur Raum. Mühelos hielten sie die Zeit um sie herum an. Die Sanduhr lief sich fest, der ingeniöse Chronometer von Herrn Harrison setzte aus, und die Erde drehte sich nicht mehr.
Später bemerkten sie verwundert, daß sie in ein Kirchenportal geraten waren, sie hatten sich in einer Kirche geküßt, was für ein Einfall, aber es war kein Einfall, es hatte sich vollzogen, es hatte sich unaufhaltsam ergeben. Keuchend und glühend und lachend waren sie Hand in Hand wieder in den Regen hinausgerannt. Die Straßen waren ihr Königreich, der Fluß strömte, weil sie es wollten, und die Zeit hatte wieder zu ticken begonnen.
Elizabeth hatte sich noch mehr als zuvor von ihrer Familie und ihren Freundinnen entfernt, um sich diesem aufsehenerregenden neuen Projekt zu widmen. Gemeinsam hatten sie ihr Haus so eingerichtet, wie man sich die Einrichtung eines Schiffes denkt: solide, zweckmäßig, schnörkellos. Als er abreiste, war sie schwanger.
Die ersten Jahre in diesem neuen Rhythmus – einsame Sommer, Winter mit James – half ihre Mutter ihr bei den Sommeraufgaben: Ernte, Einmachen, Großreinemachen in Haus und Garten. Vermißte sie James? Wenn sie etwas vermißte, war es die Eigenschaft, die er nur ihr gegenüber zeigte: seine Fähigkeit, sich in ihren Körper zu verlieren. Daß sie ihn dazu bringen konnte, erfüllte sie mit einem eigentümlichen Stolz, den sie ein knappes halbes Jahr aufrechterhalten konnte, ehe sie mißmutig wurde. Dann war es Herbst, und er kehrte zurück.
Er nahm seine Arbeit leidenschaftlich ernst. Sie hatte ihn über mathematischen Abhandlungen seufzen sehen, Berechnungen am Rand anstellend, und wie er die Bücher am Ende des Tages fluchend oder triumphierend zuschlug; mit Bewunderung hatte sie sich seine Karten und Zeichnungen von jenen kalten, unbekannten Küsten angeschaut – welche Präzision, welche Liebe zum Detail, welches Vermögen, sich zu konzentrieren und Blatt über Blatt voll unendlicher Kleinigkeiten in das große Ganze einzufügen, das er stets im Kopf hatte. Er hegte eine innige Liebe zur Welt, doch nicht um in ihr aufzugehen, sondern um sie zu beobachten und zu beschreiben. An diesem Tisch, den sie jetzt freiräumen mußte. Für ihn.
Sie hatte andächtig zugehört, wenn er von seiner Arbeit erzählte. Von den Stürmen, dem Nebel, den saufenden und widersetzlichen Matrosen, der grausamen Rache mit Peitsche oder Karbatsche. Aber auch von dem Offizier, der ihn lehrte, wie man die Küste maß, und mit dem er Abend für Abend in der Kajüte Karten gezeichnet hatte. Und von Hugh Palliser, dem Kapitän, der ihm Aufgaben anvertraute, die weit über die zu seiner Position gehörigen Pflichten hinausgingen. Sein leiblicher Vater war ein
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