Letzter Aufzug, Genossen! (German Edition)
Letzter Aufzug, Genossen!
Originalausgabe
norbert f. schaaf
EINBUCH Buch- und Literaturverlag Leipzig
www.einbuch-verlag.de
EINBUCH Belletristik Edition
copyright 2013 y EINBUCH Buch- und Literaturverlag Leipzig
printed in Germany
Umschlaggestaltung: Welle
ISBN 978-3- 942849-18-0
www.einbuch-verlag.de
„Und während die SED-Parteibonzen leben wie die Fürsten mit Drogen und abscheulichen Sexspielen, ereignet sich in einer Wandlitzer Walddatsche ein Sexualmord …“
D ies war ein Tag, an dem schlagartig für einen wie allen das Leben in zwei Teile zerfiel, zwischen denen es keine Verbindung mehr gab.
„Was für eine Premiere!“ ließ sich ein Mann vernehmen. Wie ein Schlangenmensch reckte er die Arme hoch, rückte mühsam Lederkappe und Schal zurecht – so eingekeilt war er in der Menschenmenge. „Der Eiserne Vorhang ist hochgezogen auf dieser berauschenden Freilichtbühne, alle Anwesenden sind Hauptdarsteller, ja Hauptakteure – lässt sich etwas Phantastischeres vorstellen als diese Atmosphäre?“
Wer am 9. November 1989 in Berlin auf den Beinen war oder sonst wo im Land am Radiolautsprecher oder vor dem Bildschirm saß, dem wird kaum das Ungeheuerliche der Vorgänge entgangen sein: Der Schlagbaum am Sektorenübergang Sandburgbrücke steht im gleißenden Scheinwerferlicht des Westfernsehens offen jetzt für viele Stunden. Unkontrolliert ergießt sich nun dort wie an den vielen anderen, bis dato unmenschlich verbarrikadierten Checkpoints ein Strom von Ostberlinern. Die Grenzpolizei kapituliert vor dem Ansturm der Bürger und lässt die Massen ungehindert passieren. Myriaden von Freudentränen werden vergossen und in den Westteil der Stadt hineingetragen, zuweilen über rote Teppiche, ausgerollt von Bundis zur Begrüßung ihrer ersten, bisher so raren Gäste. Ein Mann trägt unterm Mantel nur einen Pyjama sowie darüber eine überschwängliche Stimmung: „Inne Heia wa ick schon, die Olle jeht noch mit´m Hund runta, kommt ruff und sacht: `Mensch, du! Die jehn alle nach´m Westen!´ Icke nischt wie Mantel üba und rüba!“
Ein Trabbi-Fahrer kurbelt die Scheibe runter und bringt atemlos hervor: „Ick fahr mit die Karre übern Ku´damm!“
An der Ruine der Gedächtniskirche stammelt eine Frau: „Det war schon imma meen Traum: eenmal ummen Pudding!“
Eine nicht mehr junge Frau, bekannt seit Jahr und Tag als führende Oppositionelle, versucht mit mäßigem Erfolg Flugblätter unter die Leute zu bringen und deklamiert:
„WENN AUCH DAS ALTE NIEDERGERISSEN IST, SO DÜRFEN WIR DOCH NICHT GLAUBEN, DASS UNSERE AUFGABE GETAN SEI. WIR MÜSSEN ALLE KRÄFTE ANSPANNEN, UM IN UNSERER REPUBLIK EINE NEUE STAATLICHE ORDNUNG AUFZUBAUEN, EINE ORDNUNG DER GERECHTIGKEIT UND DES FRIEDENS. WER VON EUCH DABEI MITGESTALTEN WILL, TREFFE SICH MIT UNS BEI DER NEUGRÜNDUNG EINER PARTEI, DIE WIR NEUES FORUM ...“
Etliche der schlecht gedruckten Papiere werden ihr von einem peitschenden Schneeregenschauer aus den klammen Händen gerissen, emporgeschleudert, um schließlich im Straßenkot zu landen wie übergroßes Trauerkonfetti.
Erdmann Jansen, ein nicht völlig unbekannter Regisseur, beliebt sogar bei einer Vielzahl von Menschen, wenn auch nicht bei staatstragenden Persönlichkeiten, bückte sich, hob eines der einseitig bedruckten Blätter von seinen Schuhen auf und überflog die Zeilen. Eine Bö trieb dem Regisseur die wässrigen Schneekristalle in die Augen und bedeckte das Papier mit einer gräulichen Flockenschicht. Beides war es freilich nicht, was den Regisseur am Lesen hinderte, sondern sein Aufgewühltsein im Innersten durch die historische Größe dieses Augenblicks, und es gelang ihm nur schwer, seine Fassung wiederzufinden. Er schob die Lederkappe ins Genick und erhob seine sonore Stimme, um zu erklären: „Ein zweites Mal bebt in Preußen die Erde. Dieser neunte November wird unvergessen bleiben wie das gleiche Datum anno neunzehnhundertachtzehn; auch damals ist eine Luft durch die Straßen gezogen, die den Menschen sonst fremd gewesen ist; auch damals hat sich der Boden unter den Füßen der Gehenden bewegt, auch damals war hier ein Hauch von Freiheit vorbeigezogen, eine Ahnung dessen, was das heißt: das Volk, und was wir heute wissen. Es war aber damals keine schöne und keine große , und schon gar keine gute alte Zeit , aber genau wie heute
Weitere Kostenlose Bücher