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Letzter Aufzug, Genossen! (German Edition)

Letzter Aufzug, Genossen! (German Edition)

Titel: Letzter Aufzug, Genossen! (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Norbert F. Schaaf
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nieder, und es ist fast unmöglich, in dem Gedränge die Arme hochzubekommen, geschweige denn einen Schirm aufzuspannen. Jupiter oben nimmt keine Rücksicht darauf, dass mehrere hunderttausend Menschen schon seit vielen Stunden aus den entferntesten Bezirken und den umliegenden Ortschaften nach Berlin Mitte unterwegs sind; doch scheint die Menschenmenge sich nicht von Wind und Wetter stören zu lassen, es sind nur fröhliche, aufgekratzte Gesichter zu sehen, und hoch zu dem vierspännigen Kampfwagen, dieser heiß geliebten Retourkutsche der Berliner Bevölkerung, dringt von den Menschenströmen ein ununterbrochenes Summen und Brummen, aus dem hier und da sich lachende Frauenstimmen aufsprudelnd hervortun.
    Ergriffen und voll Staunen blickte Erdmann Jansen in die Gesichter dieser Menschen, die vier Jahrzehnte kalten Krieg, vier lange Jahrzehnte Not und Entbehrung hatten erdulden müssen. Vergessen schien alles, vergessen an diesem Tag die ganze Sinnlosigkeit ihres Opfers!
    Erdmann Jansen schämte sich in Erinnerung an seine morgendliche Skepsis; sie erschien ihm unwürdig jetzt angesichts des ungeheuren Auferstehungswillens dieser Menschenmassen. Und während er dieses gewaltige Bild auf sich wirken ließ, gedachte er der vielen Gespräche mit den Freunden, die alle nur von dem großen Lug und Betrug der kommunistischen Staatsführung gesprochen hatten. Er ertappte sich aber sogleich bei der bohrenden Frage, was die neue Zeit bringen würde, ob sich alle Vorteile der sogenannten Sozialen Marktwirtschaft oder das Vorbild einer noch undefinierbaren russischen Perestrojka, wie manche meinten, auf die hiesigen Verhältnisse übertragen ließen.
    Trotz der Novemberkühle und des Graupelwetters standen die Fenster der Wohnhäuser weit geöffnet, und die Bürger, die sich der freiheitlichen Kundgebung nicht angeschlossen hatten, aus welchen Gründen auch immer, schauten mit hoffnungs- und zukunftsfreudigen Gefühlen auf diese Riesenmenge, die zum Tempel der Freiheitsverkündung, dem Siegestor, wallfahrte.
    Wenngleich ein Teil von ihnen sich bis gestern noch verzweifelt an die Hoffnung geklammert hatte, das System der Gulaschkanonen, die – wenn überhaupt – nur nach Linie schossen, würde ihnen erhalten bleiben und nach diesen fürchterlichen Jahrzehnten der Misere in neuem Glanz wiederauferstehen wie Phönix aus der Asche, mussten die meisten jetzt wohl oder übel erkennen, dass es endgültig zerrissen war und nichts mehr den Beginn einer neuen Zeit aufhalten konnte.
    Nachdem man Tag für Tag voller Angst sein morgendliches Neues Deutschland aufgeschlagen und immer neue Hiobsbotschaften empfangen hatte, mochte heute – angesichts dieser mächtigen Demonstration und Manifestation frohgemuter Menschen – zunächst die Neugierde Oberhand gewonnen haben. Wie manch einer schon insgeheim gedacht haben mochte: Schlimmer kann es nicht kommen, man wird sich halt entsprechend einrichten müssen.  
    Das „Einrichten“ aber hatten die Berliner zwar seit jeher geübt, aber stets nur als aufgezwungenes Provisorium verstanden, niemals verinnerlicht und sich mehr schlecht als recht dabei gefühlt, vor allem in den frühen Kriegs- und Elendsjahren. Ihnen nur ihre Gemütlichkeit zu lassen, jedem seinen gewohnten Lebensbereich, hatte sich am Ende doch nicht ganz ausgezahlt.
    Die Menschen – wildfremd untereinander zuweilen – lagen sich dann ganz unvermittelt in den Armen, lachten und jubelten mit glücklichen Gesichtern. Und das Volk sang: „So ein Tag, so wunderschön wie heute...!“
     
    So profan war das zugegangen damals. Du schüttelst den Kopf?
    Also gut. Hangeln wir uns am Zeitfaden zurück in die Tage, die heute unseren Status quo bestimmen. Nicht allzu weit, sagen wir zunächst bis zum 9. Oktober 1989, dem Tag der größten aller Montagsdemonstrationen in Leipzig, dem Anfang vom Ende des real existierenden Sozialismus auf deutschen Boden. Eine knapp vierzigjährige Firma, die sich volkseigen gab, war bankrott gegangen, Tore sollten sich öffnen: die der Gefängnisse und das Brandenburgische, um Millionen von Menschen in eine hoffnungsfrohe, aber doch auch ein wenig ungewisse Freiheit zu entlassen. Die Leute rufen: „Wir sind das Volk – keine Gewalt!“ und der Herrscher über den Ostblock ordnet an, dass die Streitkräfte der DDR unter keinen Umständen ins Geschehen eingreifen.
    Du hast in Akten gelesen? Der Inhalt eines Behördenpapiers entspricht der Wahrheit eines parteipolitischen Wahlprogramms oder der

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