Leuchtfeuer Der Liebe
volles, grau meliertes Haar zu einem Nackenknoten gebunden, von einer Stricknadel oder einem Schreibstift zusammengehalten, was immer gerade zur Hand war. Heute hatte sie eine alte Häkelnadel zur Befestigung des Knotens gewählt.
„Nun?" fragte Jesse.
„Sie ist halb bei Bewusstsein."
„Was bedeutet das?"
„Sie ist in einem Dämmerzustand zwischen Wachen und Schlafen." Fiona nahm ihr Stethoskop vom Hals und legte es in ein schwarzes Samtetui. „Ist Ihnen aufgefallen, dass sie keinen Ehering trägt?"
„Nicht alle tragen einen Ehering."
„Dadurch ergeben sich interessante Möglichkeiten", sagte sie. „Vielleicht ist sie eine Witwe ..."
„Oder ein gefallenes Mädchen." Es war leichter für ihn, schlecht von der Fremden zu denken.
„Wieso gibt es eigentlich nur gefallene Frauen?" fragte Fiona sinnend. „Nie einen gefallenen Mann?"
„Jedenfalls ist sie ins Meer gefallen und wahrscheinlich besser dran als er."
„Richtig." Fiona zog ihren weißen Arztkittel aus und legte ihn sorgfältig zusammen. „Ich konnte ihr ein wenig Wasser einflößen. Aber sie steht unter Schock und ist immer noch in Lebensgefahr."
„Ist sie irgendwie verletzt?" Jesse stellte die Frage, weil er wünschte, dass sie bald wieder zu Kräften kam und aus seinem Leben verschwand. Je früher, desto besser.
„Sie hat eine böse Prellung am Schlüsselbein, darauf müssen Sie achten."
„Wieso ich?" Das Grauen kroch wie eine Spinne über Jesses Brust.
„Ja. Die Schulterpartie ist stark geschwollen." Ohne um Erlaubnis zu fragen, trat Fiona an das Regal und goss zwei Finger breit Brandy in ein Glas. „Die rechte Seite."
„Das sollten Sie den Leuten sagen, bei denen sie unterkommen wird." Während Jesse sprach, kroch Argwohn in ihm hoch.
Fiona trank den Brandy in einem Zug und schloss genüsslich die Augen, während die Flüssigkeit ihr durch die Kehle lief, und ein seliges Lächeln breitete sich über ihre klaren Gesichtzüge. Dann öffnete sie die Augen. „Sie bleibt bei Ihnen. Jesse, Sie haben die junge Frau gerettet. Sie tragen die Verantwortung für sie."
„Nein." Er trat an den Küchentisch, schlug die flachen Hände auf die Platte, beugte sich vor und starrte die Ärztin finster an. „Verflucht noch mal, Fiona, ich dulde nicht ..."
„Sie dulden nicht", spottete sie. „Es geht immer nur um Sie, nicht wahr, Jesse Morgan? Sie sehen alles nur aus Ihrer Sicht."
„Wie denn sonst?"
„Aus der Sicht der bedauernswerten Frau da drin, Sie Dickschädel!" Fiona goss sich einen weiteren Schluck Brandy ein. „Sie hat keine sichtbaren Verletzungen, abgesehen von ein paar Blutergüssen und Abschürfungen. Das bedeutet aber noch lange nicht, dass wir sie durch die Gegend kutschieren dürfen. Sie ist in einem bedenklichen Zustand, machen Sie sich darüber keine Illusionen."
„Sie müssen sie mitnehmen." Seine Stimme war ein raues Krächzen.
„Ich denke nicht daran."
„Hier kann sie nicht bleiben."
„Den mexikanischen Seemann haben Sie letztes Jahr sechs Wochen bei sich behalten."
„Das war etwas anderes." Jesse hatte den Matrosen gerettet, bevor sein Beiboot in der Brandung an den Felsklippen zerschellt war. „Er schlief im Schuppen und telegrafierte um Hilfe."
„Und er sprach nicht Englisch", ergänzte Fiona, als habe Jesse Schuld daran, „und konnte Ihre Einsamkeit nicht stören."
»
„Seit wann ist es ein Verbrechen, wenn man seine Ruhe haben will?"
„Es ist ein Verbrechen, eine Frau unnötig in Lebensgefahr zu bringen, weil Sie Angst davor haben, sie zu behalten."
Der Vorwurf erschreckte Jesse. „Das war ein verdammter Schlag unter die Gürtellinie, Fiona."
Sie nippte am Brandy. „Ich weiß. An der Universität habe ich gelernt, mit unfairen Mitteln zu kämpfen. Und ich habe nie den Kürzeren gezogen. Schon gar nicht im Kampf mit einem Mann."
Jesse richtete sich auf und trat vom Tisch zurück. „Was ist mit dem Ruf der Frau? Wahrscheinlich ist sie eine anständige, gottesfürchtige Person. Ich nehme an, Mrs. Swann verbreitet schon haarsträubende Gerüchte über sie in der Stadt. Es schickt sich nicht, wenn eine Frau mit einem Mann, mit dem sie nicht verheiratet ist, unter einem Dach wohnt."
„Sobald ich die Leute darüber aufkläre, in welchem Zustand sie sich befindet, werden auch die engstirnigsten Bürger nicht argwöhnen, es gehe etwas Unschickliches in Ihrem Haus vor."
„Sie haben ja eine hohe Meinung von Ihren Mitbürgern", sagte Jesse spöttisch. „Die Leute werden kein gutes Haar an
Weitere Kostenlose Bücher