Leute, das Leben ist wild
meine. Er läuft voran, ich folge ihm dicht. Dabei hebt er seinen freien Arm immer wieder hoch, um die tief hängenden Äste über dem schmalen Trampelpfad zur Seite zu biegen, damit sie uns nicht durch die Gesichter schnalzen. Je näher wir der Uferstelle kommen, desto stärker brennt es in meiner Lunge, desto mehr weiten sich meine Augen, und um uns herum wird es dunkel, schneller als sonst. Zu unseren Füßen flattern die Amseln durch das dichte Geäst und zwitschern im Fortfliegen.
Meine Hand greift fest um Johannes’ Hand und er fasst ebenso kräftig zurück. Er wirft seine blonden Haare nach hinten, und da, zwischen den Sträuchern, sehen wir schon
den Baumstumpf. Tatsächlich meine ich für einen Augenblick, Alinas Umrisse darauf erkennen zu können, so, wie ich sie oft dort habe sitzen sehen. Immer dann, wenn wir verabredet waren und ich zu spät kam. Ich kneife meine Augenlider zusammen, reiße sie wieder auf. Der Baumstumpf ist leer, nur mit grünem Moos überzogen.
Jetzt sind wir da. Rund um den Baumstumpf liegen ein paar verschrumpelte Zigarettenkippen im Gras, vielleicht sind es unsere, vielleicht von anderen Teenagern, die sich hier ebenfalls getroffen haben. Wer weiß das schon so genau? Johannes und ich bleiben stehen und sehen Stück für Stück, als würden wir ängstlich den Boden absuchen, hinunter bis zum Flussufer. Der Boden ist mit Efeu bedeckt, dazwischen brechen die Wurzeln der Bäume hervor, danach wird es immer feuchter, die Erde wird dunkler und schließlich geht es relativ steil bergab, hinunter zum reißenden Fluss, der sich in Wirbeln und Strudeln um die herausragenden Steine wirft und sich in einer Kurve verliert.
Johannes lässt meine Hand los und geht ein Stück weiter Richtung Böschung. Dabei hält er die Arme ausgestreckt, um das Gleichgewicht zu halten. Mein Blick gleitet über den überwucherten Boden. Irgendwelche Spuren müssen wir doch hinterlassen haben. Irgendetwas, eine Art Schlüssel, der es möglich macht, zu dem Augenblick zurückzukehren, an dem noch alles gut war. Doch nichts ist zu sehen.
Johannes’ Fuß rutscht weg, schnell geht er in die Knie und hält sich mit der Hand an einer Wurzel fest, um nicht hinzufallen. Dann bewegt er sich weiter, die Böschung hinunter. Langsam folge ich ihm, in der Erinnerung erlebe ich alles noch einmal. Viel zu sehen war da nicht in
der Dunkelheit, nur das Atmen von Arthur und die klatschenden Bewegungen, von Armen, die auf die Wasseroberfläche schlugen, waren zu hören gewesen. Johannes’ ruckende Bewegungen, als er Alina aus dem Fluss an Land gezogen hatte, waren schemenhaft zu erkennen gewesen, ihre schockgeweiteten Augen, die weiß im Mondlicht schimmerten. Wieder höre ich das Rauschen und Rascheln, als ich nach einem dicken Ast tastete. Da vorne, ein paar Schritte nach links, muss Alina gelegen haben, nachdem Arthur sie ans Ufer gebracht hatte. Ich gehe näher heran, tatsächlich: Hier ist der Efeu niedergedrückt und abgeknickt. Ich knie mich hin, lege die Handflächen auf den Efeu, als könnte ich Alinas Körperwärme fühlen, und als ich die Hände niederdrücke, spüre ich etwas Hartes unter den festen Blättern. Eilig schiebe ich sie zur Seite.
Zwischen den dünnen, gummiartigen Zweigen liegt Johannes’ Sturmfeuerzeug. Ich nehme es auf und sehe es an. Wasser rinnt aus dem silbernen Metallgehäuse. Gerade erst hatte er es doch immer wieder angeschnipst, damit wir in Alinas Gesicht sehen konnten, um zu prüfen, ob sie noch atmete. Wie kann es sein, dass jetzt das gesamte Leben aus ihrem Körper gewichen ist. Ist denn alles so flüchtig?
Johannes kommt nun die Böschung wieder zu mir herauf und hockt sich eng neben mich. »Ein Wunder, dass Arthur sie da überhaupt herausfischen konnte. Er kann von Glück reden, dass es ihn nicht selbst auch noch erwischt hat.«
Das will ich mir gar nicht vorstellen. Also zeige ich ihm das Feuerzeug. »Guck mal, was ich gefunden habe.«
»Oh, mein …«
Johannes greift danach, doch als er es hat, lässt er meine Hand ebenfalls nicht mehr los, sondern umschließt sie mit seiner Faust. Endlich kann ich wieder weinen, alles aus mir herauslassen, alle Trauer, alle Verzweiflung und alle Wut. Und Johannes hält mich. Endlich hält mich jemand. Ganz still und konzentriert. Endlich hält mich jemand nur fest und zusammen, damit ich nicht auseinanderfalle. Und doch habe ich Angst, dass Johannes mich viel zu schnell loslassen könnte. Ich flüstere mit tränenerstickter Stimme: »Halt
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