Leute, das Leben ist wild
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J eden Abend, kurz vor dem Einschlafen, denke ich: Auf dieser Welt kann mich nichts mehr schocken. Mit meinen knapp 17 Jahren habe ich nämlich bereits sämtliche Höhen und Tiefen durchwandert, die das Leben überhaupt zu bieten hat. Doch kaum wache ich am nächsten Morgen auf, erlebe ich die nächste Sensation, die mich aus den Schuhen haut. Wobei »Sensation« in meinem Fall nicht zwangsläufig bedeuten muss, dass besonders toll ist, was mir da schon wieder passiert. Ich würde sogar sagen: Ich könnte gut mal eine Pause vom Leben gebrauchen.
Ich gucke runter auf meine Armbanduhr, es ist kurz nach zehn Uhr am Samstagmorgen, und bisher ist merkwürdigerweise alles gut gegangen. Mal abgesehen davon, dass mir total heiß ist und ich langsam, aber sicher einen ziemlichen Sonnenbrand im Gesicht und auf den Armen bekomme. Seit einer halben Stunde stehe ich in brüllender Hitze am Straßenrand der Bungalowsiedlung, in der ich mit meiner Familie wohne. Das heißt: Meine 19-jährige Schwester Constanze, genannt »Cotsch«, ist inzwischen zu ihrem 50-jährigen Freund Helmuth gezogen, weil sie jetzt ein gemeinsames Baby haben - was, wie man sich leicht vorstellen kann, nicht unbedingt geplant war. Eigentlich wollte meine Schwester nämlich als studiertes Fotomodell Weltkarriere machen und sich niemals fest an einen Mann binden. Wer die Ehe meiner Eltern kennt, weiß warum.
Dummerweise habe ich mich, obwohl ich definitiv eher der hellhäutige Typ bin, im Vorfeld nicht mit Sonnenmilch eingecremt. Aus Erfahrung weiß ich aber: Ohne Schutzfaktor 200 kann das für mich gehörig nach hinten losgehen. Wenn nicht bald meine beste Freundin Alina angefahren kommt, die eigentlich schon längst hätte da sein wollen, wird meine Haut demnächst Blasen werfen und sich dann von meinem Gesicht und den Armen abschälen.
Ich gucke über den grauen Asphalt, Richtung Waldessaum, in der Hoffnung, dass endlich der schwarze Tourbus um die Kurve biegt, in dem Alina mit den Bandmitgliedern von Bird’s Nest seit zwei Wochen unterwegs ist. Alina war nämlich mit denen auf Tour, weil sie seit Neuestem gemeinsam mit den Jungs die Songtexte schreibt. Die Band und sie haben sich im Frühsommer nach einem Konzert im Backstage-Bereich kennengelernt, für das ich, mit Hilfe meiner geheimen Liebe Johannes, Karten besorgt hatte. Und da Alina der größte lebende Bird’s Nest-Fan weltweit ist und ebenfalls des Öfteren gefährlich nah am Abgrund des Lebens entlangtaumelt, hat sie ordentlich was lyrisch zu verarbeiten. Wovon die Band nur profitieren kann.
Über der Straße flimmert die Luft, im Radio haben sie heute früh gesagt, dass wir den heißesten Tag des Jahres erleben. Überall kleben mir die Stechmücken: am Oberarm, im Nacken und an den Knöcheln. Ich versuche, sie alle zu erwischen, aber leider sind die meisten schneller als ich. Allein am Unterarm habe ich fünf juckende Stiche. Hauptsache, die Viecher stechen mich nicht ins Gesicht, das sieht dann nämlich leicht bescheuert aus.
Nicht weit von hier gibt es einen modrigen Entenweiher. Sich zu dieser Jahreszeit diesem Tümpel zu nähern,
würde an Selbstmord grenzen. Da herrscht ein Mückenaufkommen, das man glatt als Plage bezeichnen könnte. Wie eine surrende, tiefschwarze Wolke hängen sie über dem Wasser. Und ratet mal, wer sich gestern trotzdem durchs Unterholz geschlagen hat, um dorthin zu gelangen, und total zerstochen wurde, sodass er anschließend seinen gesamten Körper mit Kühlgel einschmieren musste?
Exakt: mein Freund Arthur.
Er wohnt direkt neben uns in seinem Reihenhaus, und zwar ganz alleine, seitdem seine Eltern vor ein paar Jahren kurz hintereinander ums Leben gekommen sind. Arthur ist beinahe 20 Jahre alt, was ich, unter uns gesagt, ganz praktisch finde. Die meisten Mädchen aus meinem Jahrgang sind mit Jungs aus den Parallelklassen zusammen; und sie beklagen sich ständig darüber, dass die Typen unreif sind und keine Bereitschaft zeigen, sich wirklich ernsthaft auf eine Beziehung einzulassen. Wenn es hart auf hart kommt, wollen die abends lieber allein mit ihren Jungs rumziehen. Ihre Freundinnen müssen brav zu Hause bleiben und dürfen sie nicht auf dem Handy anrufen. Die Jungs fühlen sich nämlich sonst »unter Druck gesetzt«. Schönen Dank auch. Den Satz kenne ich schon von meinem Vater. Damit hat er meine Mutter ganz wunderbar im Griff.
In jedem Fall hat Arthur gestern irgendwelche Wasserproben aus diesem modrigen, von Mücken bevölkerten Tümpel entnommen,
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