Lichthaus Kaltgestellt
systematisch Schmerzen zugefügt. Vor allem durch die Brandverletzungen.« Lichthaus merkte Güttler an, dass es in ihm gärte. »Der Magen war so gut wie leer, wir haben nur kleine Reste von Brot und Nudeln gefunden. Das Mädchen war total dehydriert. Außerdem ist sie post mortem noch schwer gefallen. Sie hat eine Druckstelle auf der Stirn, die nicht mehr eingeblutet hat. Der abgebrochene Schneidezahn stammt wohl auch von dem Sturz. Wenn ich mir die Spuren an Handgelenken und Fesseln ansehe und ihren Rücken betrachte, war sie wahrscheinlich die meiste Zeit liegend gefesselt. Ich denke mit einer Nylonschnur, denn wir haben keine Faserreste finden können. Nur grünen Kunststoff.« Er blätterte um, las aber nicht weiter vor. »Das war wohl das Wichtigste. Ach ja, er hat ihr die Augen abgeklebt. Die Details liefern wir euch noch.« Güttler schaute Lichthaus abwartend an.
»Was denkst du, Stefan?«
»Ich bin kein Kriminalpsychologe, doch ich glaube, der Kerl hat viel Spaß daran gehabt. Und er weiß offensichtlich genau, dass er das alles unmöglich durchziehen kann, ohne DNA-Material zu hinterlassen. Deswegen hat er sich gar nicht erst die Mühe gemacht, die Spuren zu verwischen.«
»Oder er meinte sicher zu sein, dass wir die Tote nicht finden würden.«
»Habt ihr aber. Du musst dieses Schwein fassen, unbedingt.«
»Das ist mein Job. Mach mir bitte ein Bild des Zahnabdrucks und lege ihn dem Bericht bei.« Güttler nickte und schaute auf die Uhr. Es war kurz vor halb sieben.
»Gehst du noch ins Präsidium?«
»Nein, direkt zur Galerie. Es ist schon spät.«
Güttler grinste. »Dann kann ich ja gleich mitkommen. Was ist mit dem Fall, Herr Kommissar?«
»Der kann mich mal. Bis um neun. Da treffen wir uns im Präsidium für eine lange Nacht.«
*
Während er darauf wartete, dass Güttler sich umzog, dachte Lichthaus an die amüsierte Frage des Rechtsmediziners. Er hatte sie erwartet, denn normalerweise hätte er nonstop weitergemacht. Doch die Vernissage war ihm im Augenblick wichtiger. Vor einigen Jahren, noch in Mainz beim LKA, wäre das ganz anders gewesen. Sein Ehrgeiz hatte ihn ohne Rücksicht auf Verluste vorangetrieben. Immer weiter war er nach oben gekommen, bis zu einem Montag im März vor drei Jahren. Polizeipräsident Ensler hatte ihm die Stelle des Abteilungsdirektors im LKA für organisierte Kriminalität angeboten. Er war angekommen.
Nie würde er das Gefühl vergessen, den Triumph, als er den Präsidenten verließ. Er fuhr nach Hause und kaufte Champagner und Blumen, um zu feiern. Sie wohnten damals in einer Altbauwohnung in der Altstadt. Er schloss die Tür auf und fand die Wohnung dunkel vor. Doch Claudia war da, saß im Wohnzimmer vor gepackten Koffern und weinte. Sie würde gehen, sagte sie, zurück zu ihren Eltern und dann mal sehen. Lichthaus fiel aus allen Wolken und rastete völlig aus. Er schrie sie an und flehte, sperrte die Koffer ein und stellte sich vor die Tür. Doch Claudia blieb ruhig, und auch er fing sich wieder.
Dann hatten sie geredet. Die ganze Nacht. Und Claudia war geblieben. Als die Sonne aufging und ins Schlafzimmer fiel, lag sie neben ihm und schlief. Sie war so zart und verletzlich. Er begann zu weinen. Am Morgen meldete er sich krank, und sie fuhren in die Pfalz, um sich weiter auszusprechen. Eigentlich sprach Claudia. Sie zeigte ihm seine Ignoranz auf. Wie er von seinem Ehrgeiz gefangen war, nie zu Hause, und wenn, gab er sich eingenommen von sich und seinem Beruf. Er hatte nicht bemerkt, dass sie nicht mehr malte, hatte ihre künstlerische Leere übersehen und ihren Wunsch nach Kindern hintangestellt, hatte sie einfach beiseite geschoben, so wie ein Möbelstück, das im Weg steht. Ihr bisheriges Zusammenleben würde sie so nicht mehr fortsetzen, sie sehnte sich nach einem echten Miteinander. Er schämte sich und erkannte, dass sich viel ändern musste, wenn er sie nicht verlieren wollte.
Einen Tag später hatte er die Abteilungsdirektorenstelle abgesagt. Der Polizeipräsident fiel aus allen Wolken und redete lange auf ihn ein. Doch Lichthaus lehnte ab. Schon in diesem Gespräch bemerkte er, dass der Schock über Claudias drohenden Weggang ihn verändert hatte. Er hörte zwar die blumigen Ausführungen, doch er spürte deutlich, dass er selbst darin als Mensch mit privaten Interessen und vor allem mit einer Familie nicht vorkam. Als er ging, spürte er deutlich, dass der Präsident ihn abgeschrieben hatte. Kurz darauf bewarb er sich nach Trier. Den Kollegen
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