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Lieber Feind

Lieber Feind

Titel: Lieber Feind Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jean Webster
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verspreche, Ihr Buch zu lesen, vorausgesetzt, daß Sie eins von meinen lesen. Ich schicke hiermit die „Puppen-Dialoge“ und werde in ein bis zwei Tagen nach dem Urteil fragen.
    Es ist sehr anstrengend, einen schottischen Presbyterianer frivol zu machen, aber Beharrlichkeit bewirkt Wunder.
    S. McB.

    13. Mai.
    Meine liebe, liebe Judy!
    Die Zeitungen sind voll von den Überschwemmungen in Ohio! Aber hier in Dutchess County sind wir wie ein nasser Schwamm. Fünf Tage Regen, und alles in der Anstalt ist verquer.
    Die Babys hatten Bräune, und wir haben nachts bei ihnen gewacht. Die Köchin hat gekündigt, und in den Mauern ist eine tote Ratte. Unsere drei Lager sind undicht, und nach dem ersten Wolkenbruch kamen in der frühen Dämmerung vierundzwanzig durchnäßte kleine Indianer, in feuchtem Bettzeug eingehüllt, klappernd an die Tür und baten um Einlaß. Seitdem sind alle Wäscheleinen und alle Treppengeländer mit nassen und riechenden Decken bedeckt, die zwar dampfen, aber nicht trocknen. Herr Percy de Forest Witherspoon ist ins Hotel zurückgekehrt, um zu warten, bis die Sonne herauskommt.
    Nachdem sie vier Tage lang ohne wirkliche Bewegungsfreiheit zusammengepfercht waren, bricht das Böse der Kinder fleckenweise aus wie bei Masern. Betsy und ich haben uns alle Arten aktiver und unschuldiger Beschäftigungen ausgedacht, die in einem so engen Raum möglich sind: Blinde Kuh und Kissenschlachten und Versteck, Turnen im Eßzimmer, Sackhüpfen im Schulzimmer (wobei zwei Fenster kaputt gingen). Die Buben haben in den Gängen Bockspringen gespielt und den ganzen Verputz der Wände abgeschlagen. Wir haben energisch und wild großreinegemacht. Das ganze Holzwerk ist abgewaschen, die Böden sind auf Hochglanz gebracht worden. Aber trotz allem haben wir sehr viel Energie übrig und sind mit den Nerven an dem Punkt angelangt, wo wir uns gegenseitig prügeln möchten. Sadie Kate hat sich aufgeführt wie ein kleiner Teufel — gibt es weibliche Teufel? Wenn nicht, dann hat Sadie Kate diese Gattung eingeführt. Und heute nachmittag hatte Loretta Higgins — ja, ich weiß nicht, ob es eine Art Anfall oder nur ein Temperamentausbruch war. Sie warf sich auf den Boden und brüllte eine geschlagene Stunde lang, und wenn man sich ihr nähern wollte, hat sie um sich geschlagen wie eine kleine Windmühle und gebissen und mit den Füßen ausgeschlagen. Bis der Doktor da war, hatte sie so ziemlich ausgetobt. Er hat sie schlapp und kraftlos aufgehoben und ins Krankenzimmer getragen. Nachdem sie eingeschlafen war, kam er in mein Zimmer, um die Urkunden durchzusehen.
    Loretta ist dreizehn; in den drei Jahren ihres Hierseins hatte sie fünf solcher Ausbrüche, jedesmal wurde sie schwer dafür bestraft. Die Angaben über die Abstammung des Kindes sind einfach: „Mutter an Alkoholiker-Wahnsinn in der Anstalt Bloomingdale gestorben. Vater unbekannt.“ Er studierte die Seite lange mit gerunzelter Stirn und schüttelte den Kopf.
    „Darf man bei solch einer Erbanlage ein Kind mit einem zerrütteten Nervensystem bestrafen?“
    „Man darf es nicht“, sagte ich entschieden, „wir werden ihr zerrüttetes Nervensystem heilen.“
    „Wenn wir können.“
    „Wir werden sie mit Lebertran und Sonnenschein füttern, und ihr eine nette Pflegemutter ausfindig machen, die Mitleid hat mit der armen Kleinen . . .“ Aber dann versagte mir die Stimme. Denn ich stellte mir Lorettas Gesicht vor, mit den hohlen Augen, der großen Nase, dem offenen Mund, keinem Kinn, strähnigem Haar und abstehenden Ohren. Keine Pflegemutter der Welt würde ein Kind lieben, das so aussieht.
    „Warum, ach warum“, jammerte ich, „schickt der gute Herrgott keine Waisen mit blauen Augen und lockigem Haar und der Anlage zum Liebhaben? Ich könnte eine Million von der Sorte in gütigen Heimen unterbringen, aber Loretta will niemand haben.“
    „Ich fürchte, der gute Herrgott hat nichts damit zu tun, daß die Lorettas auf die Welt kommen. Es ist der Teufel, der sich mit ihnen befaßt.“
    Armer Sandy! Er ist ungeheuer pessimistisch in bezug auf die Zukunft des Weltalls. Aber es ist ja auch kein Wunder bei dem freudlosen Leben, das er führt. Er sah heute so aus, als sei sein eigenes Nervensystem zerrüttet. Er war im Regen umhergepantscht, seitdem er heute früh um 5 Uhr zu einem schwer-kranken Kind geholt worden war. Ich brachte ihn dazu, sich zu setzen und Tee zu trinken, und wir hatten ein nettes, heiteres Gespräch über Trunksucht, Schwachsinn, Epilepsie und Irrsinn. Er

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