Galgenfrist fuer einen Toten - Der 1 DOUGLAS BRODIE Thriller
1
Im Hinrichtungstrakt des Hauptgefängnisses von Glasgow gibt es keine Fenster. Wohl nur ein besonders sadistisch veranlagter Architekt würde einen letzten Blick auf die malerischen grünen Hügel in der Umgebung zulassen. Das Gleiche gilt für Gemälde und Topfpflanzen. Eher unwahrscheinlich, dass man einen zum Tode Verurteilten mit einem hübsch gerahmten röhrenden Hirschen wie dem Monarch of the Glen oder einer schmucken Zimmerpalme erfolgreich vom Unvermeidlichen ablenken kann. Außerdem stattet der Besucher diesem Ort in der Regel nur einen einzigen Besuch ab. Mit einer Haube über dem Kopf.
Vor dem Krieg führte man mich einmal durch jenen Zellentrakt in His Majesty’s Prison Barlinnie. Noch heute, Jahre später, muss ich nur die Augen schließen, um mich an jede trostlose Einzelheit und den genauen Grundriss zu erinnern. Fast so, als hätte mir jemand beides in die Lider eintätowiert.
Stellen Sie sich eine Ansammlung grauer Monolithen vor, die die Landschaft am Stadtrand von Glasgow verunstalten. Massive Klötze mit winzigen Gitterfenstern, die Dächer mit viktorianischen Schornsteinen verziert. Gebäude, wie sie ein Kind entwirft, wenn es wie besessen ein Haus nach dem anderen auf seinen Malblock kritzelt. Dieser ganze hässliche Steinhaufen wird von einer hohen grauen Mauer umgeben. Und jetzt konzentrieren Sie sich auf den Innenhof in der Mitte und das Gebäude, das jeder hier Trakt D nennt.
Im Inneren sieht es wie in den meisten Gefängnissen aus: ein hoher gewölbter Raum mit einander gegenüberliegenden Laufgängen, zwischen denen ein Abgrund klafft. Auf jeder Ebene an die Wände geklatschte Zellen. Metallplattformen als Brücken zwischen den Laufgängen. Stahltreppen, welche die einzelnen Ebenen miteinander verbinden.
Im dritten Stock jedoch gibt es diesen ganz besonderen kleinen Zellentrakt. Sein Insasse kann nirgendwo mehr hin. Er kann nur noch die kurze Brücke überqueren und auf der anderen Seite durch die schlichte Holztür treten. Machen Sie diesen Spaziergang, gehen Sie durch die Tür. Mit offenen Augen.
Hinter dieser Tür ist die Luft abgestanden, die weißen Wände scheinen auf einen zuzurücken. In der Raummitte befindet sich eine in den Boden eingelassene Falltür. Daneben steht ein Hebebaum, offenbar mit ihr verbunden. Unmittelbar darüber gähnen drei rechteckige Öffnungen in der Decke, sodass man den langen Tragebalken in der Kammer oberhalb erkennen kann. Durch die mittlere Öffnung baumelt ein Strick samt Schlinge vom Balken herunter. Auch die anderen beiden breiten Deckenschlitze sind einladend geöffnet, bestens gerüstet für Stoßzeiten, in denen man hier drei Todeskandidaten gleichzeitig hängen kann. Sie dürfen sich um den besten Platz auf der Falltür streiten.
Heute steht nur eine einsame Gestalt auf dem mit Kreide eingezeichneten T in der Mitte der Klappe. Der Oberkörper ist mit einem breiten Lederriemen gefesselt, den Kopf bedeckt eine Haube. Die Schlinge baumelt lose um den derart präparierten Hals, sie ist ummantelt von weichem Leder. Zumindest verhindert das Schürfwunden an empfindlicher Haut. Ein Messingschlupf sichert die Schlinge, damit sie nicht verrutscht, sondern sich schnell und wirksam zuzieht. Schließlich soll der Strick den Verurteilten nicht qualvoll erdrosseln, sondern ihm einen schnellen Tod durch Genickbruch bescheren – das Kennzeichen einer zivilisierten Gesellschaft.
Jetzt spaziert ein Mann in blauer Uniform über die widerhallenden Holzbohlen und greift grinsend nach dem Hebel. Mit einem schockierend lauten Schlag und einem Scheppern öffnet sich die Falltür. Der Tragebalken im Raum darüber ächzt unter dem Gewicht gequält auf. Die Gestalt stürzt in die Tiefe, wo eine Auffangwanne wartet. Der Strick steht unter Spannung und zittert wie eine gezupfte Gitarrensaite. Der Wärter amüsiert sich über die bleichen Gesichter der vier neuen Wachtmeister, die dem Schauspiel im Rahmen ihrer Weiterbildung beiwohnen. Dann gibt er dem Wärter im unteren Raum das Zeichen, die Attrappe vom Strick loszubinden.
All diese Bilder kann ich heraufbeschwören, während ich auf der oberen Pritsche meines Schlafabteils auf dem Rücken liege und vom Nachtzug nach Glasgow durchgerüttelt werde. Aber diesmal hat die Attrappe ein Gesicht. Unter mir und ringsum spüre ich, wie der Royal Scott durch die Nacht braust, wie die Stahlräder unerbittlich über die Schienen rattern. Hin und wieder kreischt die große Bestie schrill auf, sodass ihr mitternächtlicher
Weitere Kostenlose Bücher