Tanz der Engel
Kapitel 1
Raffael
M arisa stupste mich mit dem Ellbogen in die Seite, als wir gemeinsam zum Schultrakt liefen. »Schau mal«, kicherte sie. »Sie frisst ihn noch auf, wenn er nicht aufpasst.«
Ich strich eine verirrte Strähne meiner langen, dunklen Haare aus dem Gesicht und spähte zu dem verwitterten Holzsteg hinüber, der in den von blaugrauen Wolken überschatteten See ragte. Eng umschlungen standen dort die kurvenreiche Hannah und der adonisgleiche Raffael und knutschten, als gäbe es kein Morgen mehr.
»Das wäre wahrscheinlich die beste Lösung«, erwiderte ich trocken.
»Aber hallo! Ist da etwa jemand eifersüchtig?«
»Quatsch! Hast du vergessen, dass ich Juliane und Raffael zusammengebracht hab?«
»Nein, das habe ich nicht.« Marisas wasserblaue Augen gefroren zu Eis, während sie das turtelnde Paar beobachtete. »Aber seitdem er Juliane durch Hannah ersetzt hat, überfällt mich jedes Mal ein mieses Gefühl, wenn ich sehe, wie er eines von uns Mädchen anschaut – selbst wenn es nur Hannah ist. Als würde er einen Verführungszauber anwenden.«
»Das wäre ja ein toller Trick.« Ich bemühte mich, ein glaubwürdiges Lachen zustande zu bringen und zwang meine Mundwinkel, oben zu bleiben – schließlich war ich diejenige, die auf seine Spielchen hereingefallen war. »Mich kann er mit seinen schwarzen Glutaugen jedenfalls nicht mehr becircen. Und Hannah ist alles andere als ein hilfloses Häschen.«
»Da hast du recht. Trotzdem fände ich es völlig okay, wenn sie ihm bald den Laufpass geben würde.«
Ich warf Marisa einen verstohlenen Blick zu. Der berechnende Unterton in ihrer Stimme gefiel mir nicht. Andererseits konnte ich mit ihr, als meiner Verbündeten, einfacher herausfinden, warum Raffael noch immer den smarten Schüler spielte. Er hatte mich an Sanctifer verraten und damit nicht nur mein, sondern auch Christophers Leben aufs Spiel gesetzt. Und freiwillig besuchte er das äußerst romantisch an einem einsamen See gelegene Märchenschlossinternat, auf dem ich seit vier Monaten zur Schule ging, bestimmt nicht.
Als ich erfuhr, dass Raffael ein von Sanctifer geschickter Flüsterer war, hatte ich behauptet, dass ich meinen Einfluss bei den Engeln geltend machen würde, falls er sich noch einmal an Juliane vergreifen sollte. Und obwohl es im Grunde nur eine leere Drohung war, ließ er sich davon einschüchtern. Aber anstatt von der Bildfläche zu verschwinden, hatte er Hannah aufgerissen – was nicht sonderlich schwer war, da sie schon lange auf ihn stand. Mich jedoch brachte das in eine Zwickmühle: Niemand verdiente so jemanden wie Raffael – auch wenn er mit seiner pechschwarz gewellten Mähne und seinem athletischen Körper zum Anbeißen aussah. Nicht einmal Hannah, die Internatsoberzicke! Sie zu überzeugen, Raffael lieber zur Hölle zu schicken, als sich von ihm anhimmeln zu lassen, würde alles andere als einfach werden.
»Und wenn wir der Grund wären, warum Hannah mit ihm Schluss macht, und Raffael dabei einen Denkzettel verpassen, würde ihm das wohl kaum schaden«, erklärte Marisa mit einem zufriedenen Grinsen. »Sicher wäre er dann nicht mehr so überzeugt davon, die Unwiderstehlichkeit in Person zu sein.«
»Schon möglich«, erwiderte ich halbherzig. Marisa in meine Pläne einzuweihen, das war etwas anderes, als sie mit hineinzuziehen.
»Ich hatte gehofft, dass du das auch so siehst!« Marisa lächelte hinterhältig, doch ich bemerkte es erst jetzt: Sie manipulierte mich ! »Max und Florian haben sich was ausgedacht«, bestätigte sie meine Vermutung. »Ich erzähl’s dir später.«
Mein Magen verknotete sich. Seit wann agierte Marisa so intrigant? War sie auf diese Idee gekommen, oder hatte jemand sie dazu überredet ? Ein zweiter, von einem Engel geschickter Flüsterer, der wie Raffael – dank ein wenig Engelsmagie – andere überzeugen konnte, etwas zu tun, das sie im Grunde gar nicht wollten?! Oder war es Raffael selbst, der meine Freunde beeinflusste? Nur mit welchem Ziel?
Ein kalter Schauder lief mir über den Rücken. Sanctifers Plan, durch mich an Christopher heranzukommen, war beinahe aufgegangen. Und möglicherweise wusste er, dass sein einstiger Schüler schon bald in meiner Nähe auftauchen würde. Christopher hatte mir versprochen, eine Möglichkeit zu finden, wie wir beisammen sein konnten. Und obwohl mein Geduldsfaden fast aufgebraucht war, vertraute ich ihm. Christophers Zeitgefühl tickte langsamer als meines.
Es war sonderbar, Florian auf Hannah
Weitere Kostenlose Bücher