Liebesgruesse aus Deutschland
Aber ich konnte mir durchaus vorstellen, dass die Australier beim Gehen mal sprangen oder stolperten und die Vögel in Südamerika beim Fliegen ein wenig schief in der Luft hingen.
Die weite unbekannte Welt war eine unerschöpfliche Quelle für Phantasien über alternative Lebensentwürfe. Mit der Zeit habe ich mich jedoch mit der Allgemeingültigkeit
der Naturgesetze abgefunden. Nirgends wird gestolpert oder schief gehangen, überall stehen Häuser, und ihre Bewohner laufen um sie herum. Ihre Sorgen sind in der Regel an ihrem Äußeren zu erkennen, ihre Vorlieben sind leicht nachzuvollziehen. Frauen mögen Blumen, Kinder Eis und Männer Bier. Selten in anderen Kombinationen. Und trotzdem haben wir es geschafft, aus denselben Voraussetzungen überall ein einzigartiges Leben aufzubauen. Dieser Zauber unserer Welt war am deutlichsten bei einer Zugreise zu erfahren. Man konnte wochenlang fahren, doch die Landschaft hinter dem Fenster veränderte sich kaum.
Im Zug ging es jedoch wie in der Küche einer Kommunalwohnung zu. Die Züge meiner Kindheit waren laut, sie rochen nach Wurst, Rauch und Alkohol. Ich absolvierte bereits als Baby jedes Jahr im Sommer eine Zugfahrt, allerdings nicht nach Sibirien, sondern in Richtung Süden. Ich wurde zur Stärkung meiner physischen und geistigen Kräfte zu meiner Großmutter nach Odessa geschickt. Sie wohnte am Schwarzen Meer, nach russischen Maßstäben also gleich um die Ecke, gerade mal achtundzwanzig Stunden mit dem Zug. Das sogenannte Platzkarten-Abteil bestand aus vier Klappbetten und zwei zusätzlichen im Korridor für weitere zwei Passagiere. Es gab keine Türen oder Wände zwischen Gang und Abteil, daher waren wir während der Fahrt immer zu sechst und saßen einander buchstäblich auf dem Kopf.
Soweit ich mich erinnern kann, hatte ich als Zugnachbarn Jahr für Jahr immer die gleichen Typen, die bloß einmal
etwas jünger und einmal älter ausfielen. Aber immer war ein Ingenieur auf Dienstreise dabei, der tagsüber mit grobkörnigen Komplimenten die Schaffnerin umschmeichelte und nachts vom Regal fiel. Außerdem fuhr stets eine ältere Dame mit, die auf ihrer Liege im Liegen Atemgymnastik machte, ein molliges Mädchen mit Zopf, das verträumt in einem ebenfalls molligen Buch blätterte, und der demobilisierte Soldat, der seine Uniform nicht einmal nachts auszog, als hätte er keine Unterhose an. Die Hauptattraktion russischer Züge war das Waggon-Restaurant : Kein anderer Ort war zum dauerhaften Feiern besser geeignet. Dabei brauchte man nicht einmal ein schlechtes Gewissen zu haben, denn ein Restaurant, das auch noch fuhr, erfüllte den geheimen Wunsch jedes nach dem rechten Lebenszweck suchenden Menschen: Man tat gar nichts, kam aber trotzdem voran.
Der Zug gab die Sicherheit, die wir im sesshaften Leben nie fanden: Er fuhr immer auf dem richtigen Weg, er konnte sich unmöglich verlaufen. An Punkt A losgefahren, kam er immer an Punkt B an, wenn auch oft mit Verspätung. Aber wir hatten ja Zeit. Und die Bahnhöfe waren Horte der Sentimentalität, wo selbst Russen, die sonst eher zurückhaltend waren und ungern ihre Emotionen in der Öffentlichkeit zeigten, buchstäblich die Sau rausließen. Nirgendwo wurde bei uns so viel getuschelt und geküsst. Die Gleise verbanden die Menschen, und die Züge waren immer die gleichen, egal wie unterschiedlich die Passagiere sein mochten. Ich stellte mir vor, unser ganzer Planet sei mit diesen Gleisen umwickelt, man könne ein Leben lang um die runde
Erde herumfahren, wobei allerdings die Überwindung der Ozeane entweder spezielle Zugschiffe oder sehr große Brücken oder ebenso lange Tunnel erforderlich machte.
Auf meiner Fahrt nach Berlin habe ich jedoch festgestellt, dass die Gleise doch nicht überall die gleichen waren. An der westlichen Grenze des sonst grenzenlosen Landes bekamen die russischen Züge andere Räder. Nicht nur das, auch die Passagiere veränderten sich merklich. Der Ingenieur hörte abrupt auf, die Schaffnerin anzubaggern und fiel nicht mehr vom Klappbett, die alte Dame beendete ihre Atemgymnastik, das Mädchen legte ihr Buch beiseite. Alle schauten interessiert aus dem Fenster und verglichen.
Manhattan Bücher erscheinen im
Wilhelm Goldmann Verlag, München,
einem Unternehmen der Verlagsgruppe Random House GmbH
1. Auflage
Erstveröffentlichung August 2011
Copyright © der Originalausgabe
2011 by Wladimir Kaminer
Copyright © dieser Ausgabe 2011
by Wilhelm Goldmann Verlag, München,
in der Verlagsgruppe
Weitere Kostenlose Bücher