Liebesgruesse aus Deutschland
inzwischen seit mehr als sechzig Jahren vorüber ist, entbrennen in den deutschen Medien noch immer regelmäßig Skandale, weil neue Fakten auftauchen – dass der Schauspieler X oder der Sozialdemokrat Y als Kleinkind bereits bei den Nationalsozialisten mitmachte. Wahrscheinlich hat diese Diktatur in ihrer Agonie oder aus Verzweiflung sogar Föten in die Partei eintreten lassen, um sich auf diese Weise den Zugang zu den deutschen Medien des XXI. Jahrhunderts zu sichern.
Ich habe nur einmal eine Begegnung mit dieser deutschen »Vergangenheit« erlebt. Das war im Juli 1990 in Ostberlin. Damals war die Wiedervereinigung de facto bereits abgehakt, obwohl die DDR de jure noch existierte. Es fühlte sich an, als hätte der Lauf der Geschichte für einen Moment haltgemacht, um Luft zu holen. Die Ostberliner hatten in jenem Sommer die einmalige Gelegenheit, etwas zu erleben, das es so nirgends auf der Welt mehr gab: Sie lebten gleichzeitig im Sozialismus und im Kapitalismus. Sie genossen die Vorzüge beider Systeme, ohne ihre Nachteile zu spüren. Als Wohnungsmiete zahlten sie noch immer 16,50 DM, in den Kaufhallen lagen aber schon Berge von Bananen, und man konnte laut auf Honecker und die Kommunisten schimpfen. Die Polizei hatte Angst, die Punks von der Straße zu verjagen, und die Verkäuferinnen hatten keine Lust, die neuen Produktnamen
auswendig zu lernen, jeden Tag kamen neue dazu. Sie antworteten zur Sicherheit: »Ham wa nich«, wenn man Unbekanntes verlangte. Dabei stand schon alles in den Regalen.
In dieser wunderbaren Zeit gingen mein Freund Boris und ich oft und gerne in der nagelneuen Kaisers-Filiale in Prenzlauer Berg einkaufen, die sich in einer leer stehenden DDR-Konsumkaufhalle eingerichtet hatte. Wir waren beide frisch aus der Sowjetunion geflüchtet, unsere alte Heimat befand sich gerade in Auflösung, und beinahe jede Woche ging ihr ein Stück ihrer Identität verloren. Unsere neue Heimat war dagegen gerade im Aufbau – täglich wurden riesige Laster mit Westwaren vor den Hintertüren der Ostkaufhalle ausgeladen.
An einem sonnigen Tag traf uns die deutsche Vergangenheit wie ein schwarzer Schatten, und zwar dort, wo wir sie am wenigsten erwartet hatten – vor der Kaufhalle. Auf dem Bordstein vor der Tür saß ein alter deutscher Schäferhund. Er sonnte sich mit geschlossenen Augen und wirkte überhaupt nicht böse, sondern verschlafen und müde. Boris stellte sich neben den Hund, um sich eine Zigarette zu drehen. Damals war Zigarettendrehen groß in Mode, alle drehten schwarzen Tabak wie verrückt, und manche konnten es sogar mit einer Hand in der Hosentasche. Mein Freund hatte noch keine solche Geschicklichkeit entwickelt, er brauchte ein spezielles Gerät, um Zigaretten zu drehen. Trotzdem fiel sein Tabak immer wieder auf den Asphalt, und Boris schimpfte laut auf Russisch. Zu diesem Zeitpunkt konnte noch keiner von uns Deutsch, unsere
Sprachkenntnisse waren auf das Minimum reduziert, das wir aus sowjetischen Kriegsfilmen kannten. In diesen Filmen sprachen russische Schauspieler, die Deutsche spielten, einander gelegentlich auf Deutsch an, um ihrer Rolle mehr Glaubwürdigkeit und Ausdruck zu verleihen. Es waren schlichte Sätze, die man sich leicht merken konnte wie zum Beispiel »Heil Hitler« oder »Feuerzeug kaputt« oder »Sie können gehen, Barbara«. Das war nicht viel, und wir konnten deswegen auf Deutsch keine Unterhaltung führen, wir konnten auch nicht auf Deutsch schimpfen, aber zum Einkaufen reichte es.
Mein Freund stand also in der Sonne, drehte seine Zigarette und schimpfte laut auf Russisch. Plötzlich erwachte der alte Hund. Er drehte seinen Kopf zu Boris, und ohne die Augen zu öffnen, nahm er Boris’ Hand ins Maul. Es sah schrecklich aus. Der Hund biss meinen Freund nicht, er hielt seine Hand zwischen seinen scharfen gelben Zähnen, zärtlich, aber fest. Dabei öffnete der Hund die Augen und schaute meinem Freund direkt ins Gesicht. Boris wirkte ziemlich durcheinander. Ihm fiel in dieser Situation nichts Besseres ein, als »Heil Hitler« zu sagen. Sofort machte das Tier sein Maul auf und ließ Boris los. Danach schloss der Hund die Augen wieder und tat so, als würde er im Sitzen schlafen.
Wir gingen sofort weg von der Kaufhalle, ohne ein Wort zu wechseln, aber mein Freund stand noch eine ganze Weile unter Schock. Wir wussten natürlich nicht, wie dieser schreckliche Hund reagiert hätte, wenn wir zu ihm »Feuerzeug kaputt« gesagt hätten oder »Sie können gehen,
Barbara«.
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