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Liebesgruesse aus Deutschland

Liebesgruesse aus Deutschland

Titel: Liebesgruesse aus Deutschland Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wladimir Kaminer
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wie eine tiefschwarze Wolke mit atemberaubender Geschwindigkeit über das Expo-Gelände in unsere Richtung zog. Die Wolke kam schnell näher, als würde sie jemand vom Himmel aus immer wieder treten. Es blitzte und donnerte wie nichts Gutes. Ein gnadenloser Regen, als siebter, nicht eingeladener Gast unserer kleinen Talkrunde, strengte sich an, die Erde außerplanmäßig sauber zu waschen. Die Talkshow-Gäste und Fernsehmacher sprangen in ihre schwarzen nassen Autos und rasten davon.

Deutsch-russische Vergleiche
    Die Russen gehen gerne auf Reisen. Dabei spielt das Ziel der Reise eigentlich keine Rolle, der Prozess selbst ist das Entscheidende. Vor allem Männer überraschen oft mit spontanen Reisen ihre Arbeitskollegen und Familienangehörigen. Sie gehen kurz aus dem Haus, Bier holen, und rufen sechs Tage später aus Wladiwostok an. Dazu kommt, dass Russland ein unheimlich großes Land ist und den Eindruck von Grenzenlosigkeit vermittelt, sodass man meint, man könne dort ewig im Zug sitzen. In einem europäischen Land stößt der Reisende schnell an die nationalen Grenzen. Russland dagegen hat sehr lange Gleise, besonders wenn man mit dem Zug nach Norden in Richtung Sibirien fährt. Auf einer solchen Reise glaubt man beinahe, das Land habe sich von der Geografie befreit, es dehne sich endlos. Deswegen werden auch so westliche Werte wie Nachhaltigkeit und Mülltrennung in Russland als kleinkariert verspottet, weil die Russen eben ihrer Meinung nach in einem grenzenlosen Land leben. Und in ein grenzenloses Land kann man endlos Müll hineinkippen, ohne dass es groß auffällt. Nur an der Westseite hat dieses Land eine Grenze, dort wo die russischen Zugräder
nicht mehr auf die Schienen passen. Dort hat der Spaß der Grenzenlosigkeit ein Ende.
    Nicht zuletzt deswegen lag der Schwerpunkt der russischen Suche nach dem Sinn des Lebens schon immer bevorzugt hinter dem Ural. Dort schien er begraben zu liegen. Die besten Männer Russlands, die Blüte der Aristokratie, verließen die vornehme Gesellschaft in den russischen Hauptstädten und gingen für Jahre nach Sibirien in die Taiga, um die Natur zu studieren. Sie fanden heraus, wie es andere Arten unter schwierigen Voraussetzungen schafften zu überleben: indem sie zusammenkamen. Es gibt in der Natur kaum Einzelgänger, die meisten Tiere und Vögel bilden Herden, Scharen, Meuten und Schwärme, sie führen ein Leben aufgebaut auf den Prinzipien der Kooperation, der Solidarität und gegenseitigen Hilfe, die man bei den Menschen der europäischen »zivilisierten« Welt noch heute vermisst. Die Russen gingen immer weiter durch Wald und Schnee und machten sich Namen als herausragende Geografen, Polarforscher und Neulanderoberer.
    Dann kam die Revolution, doch kaum hatte sich das Land von der rückständigen Monarchie befreit, wurde sie durch eine noch blutrünstigere Diktatur ersetzt. Der neue Staat versuchte, aus Sibirien das größte Zuchthaus der Welt zu machen. Millionen Russen wurden von Stalins Regime repressiert und nach Sibirien in Lager geschickt. So wurde der Norden auch noch zum Friedhof der Nation. An kaum einem anderen Ort sind so viele Dichter und Denker gestorben. Zu meiner Jugendzeit, in den lieblichen
Achtzigerjahren des altersschwachen Sozialismus, hatte die Diktatur ihre Bürger nicht mehr so fest im Griff, auch wenn sie immer wieder so tat, als ob. Unsere sozialistische Diktatur war von vielen Alterskrankheiten geschwächt, sie hatte Alzheimer, oft vergaß sie sogar, was an ihr eigentlich sozialistisch war. Das gesellschaftliche Leben, selbst die Zeit schien in diesem versteinerten Staat zum Stehen gekommen zu sein. Nur die Züge fuhren, und sie waren voll. Die Gleise lenkten ab und luden ein, sie gaben jedem die Chance abzuhauen – natürlich nicht für immer, vielleicht nur für die kurze Zeit der Fahrt, aber zumindest da konnte sich ein Zugreisender von der stehen gebliebenen Realität erholen. Viele Lieder von damals feierten die Romantik der Zugfahrt: »Mein Herz klopft im Takt der Zugräder«, »Die Waggons schaukeln, die Waggons wackeln«, »Wir werden niemals umdrehen, unsere Lokomotive bleibt erst im Kommunismus stehen«.
    Als Kind glaubte ich, die Welt sei an allen Ecken und Seiten verschieden wie ein Kaleidoskop. Ich dachte natürlich nicht, dass die Australier die ganze Zeit auf dem Kopf stehen würden mit den Füßen zur Sonne oder dass in Südamerika die Vögel tatsächlich mit dem Hintern nach vorne flögen, wie mancher bei uns behauptete.

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