Liebesparadies im Alpenschnee
Fluges war Philippe viel zu aufgeregt gewesen, um zu schlafen. Sie und Raoul hatten abwechselnd geschlafen und sich mit ihm beschäftigt.
Sie drehte sich nach ihm um. „Hast du Hunger, Liebling?“
„Ja. Ich möchte Chicken Nuggets.“
„Ich weiß nicht, ob es die hier überhaupt gibt.“
Raoul warf ihr über den Rückspiegel einen amüsierten Blick zu. „Keine Sorge. Sogar die Schweizer essen inzwischen manchmal Fast Food“, sagte Raoul.
Sie hielten an einem Schnellrestaurant. Nachdem sie gegessen hatten, rief Raoul seine Mutter an, um ihr Kommen anzukündigen. Soweit Crystal verstand, ging es seinem Vater nicht besser, aber sein Zustand hatte sich wenigstens nicht verschlechtert.
Nun fuhren sie weiter.
„Bevor wir ins Krankenhaus fahren, setze ich euch bei meiner Mutter ab und warte, bis ihr euch frisch gemacht habt“, sagte er leise.
Crystal liebte sein Elternhaus. Es war ein herrliches, zweistöckiges altes Chalet, in der Ortschaft Les Pècles gelegen, überragt vom gewaltigen Massiv des Montblanc. Von dort aus waren es mit dem Auto nur ein paar Minuten ins Tal von Chamonix.
Wegen der Nähe zur Schweiz und Italien herrschte in Chamonix ein internationales Flair. Berühmt geworden war der Ort, weil hier die ersten Olympischen Winterspiele ausgetragen worden waren. Crystal hatte ihn zu jeder Jahreszeit geliebt. Beim Wiedersehen mit den vertrauten Straßen und den weihnachtlich geschmückten Geschäften bestürmten sie Erinnerungen, glückliche wie traurige.
Sie waren von Südwesten in das verschneite Tal von Chamonix hineingefahren und hätten schon längst nach Les Pècles abbiegen können, doch Raoul drehte zur Begrüßung eine Ehrenrunde. Den Weg zurück fuhr er auf der nördlichen Seite des Tals.
Ihr Sohn stieß Freudenschreie aus. „Ich kann den Berg sehen“, rief er und zeigte auf den Aiguille du Midi, einen felsigen Vorposten des Montblanc. Einmal waren sie zusammen mit Raoul mit der Seilbahn bis zum Gipfel gefahren, hatten zweitausendachthundert Meter hinunter auf Chamonix geschaut und tausend Meter hoch zum Montblanc. Seit diesem Erlebnis war der Aiguille du Midi für ihren Sohn der wichtigste Gipfel und Orientierungspunkt in der Bergwelt rund um das Tal.
„Weißt du noch, wie er heißt?“, fragte sie ihn.
„Nein, aber Onkel Raoul sagt, dass die Sonne darüber steht. Siehst du?“
„Du hast ein gutes Gedächtnis“, sagte Raoul und lächelte.
Crystal zwang sich, ihn nicht aus den Augenwinkeln zu beobachten, und schaute geradeaus. Er hatte sich um den Jungen gekümmert, seit der auf der Welt war. Deshalb verbanden sich für sie viele Erinnerungen an Philippes frühe Kinderjahre mit Raoul.
Eric war ein liebevoller Vater gewesen, aber er trainierte das ganze Jahr, und zwar immer dort, wo der Schnee gerade am besten war. Crystal hatte sich häufig von ihm alleingelassen gefühlt und ihn daran erinnern müssen, dass sein Sohn ihn vermisste.
Ein Jahr vor seinem tödlichen Unfall hatte sie vorgeschlagen, einen Teil des Jahres gemeinsam in Breckenridge zu verbringen, damit sie beide trainieren konnten und mehr Zeit zu dritt hätten. Dass der Junge sich längst mit sämtlichen Anliegen an Raoul wandte, hatte sie für sich behalten. Sie betonte nur, dass es so nicht weitergehe.
Doch Eric hatte ihren Vorschlag abgelehnt und stattdessen wieder von einem Haus gesprochen. Er dachte offenbar, dass sie dann eine Beschäftigung hätte. Dass sie mit dem Gedanken spielte, wieder in den Skisport einzusteigen, bemerkte er nicht einmal. Zum Streit kam es, als sie ihm sagte, dass ein Haus kein Ersatz für einen Vater sei.
In den darauf folgenden Monaten lebten sie sich auseinander. Sie sah ihn noch seltener als früher. Eric entzog sich, und sie begriff, dass er nicht bereit war, ihr zuliebe etwas aufzugeben. Ein Eheleben fand nicht mehr statt.
Je deutlicher sie ihm gegenüber wurde, desto störrischer reagierte er. Er ging davon aus, dass sie als ehemalige Spitzenathletin wusste, was es bedeutete, im Sport immer ganz oben zu bleiben. Zu einem gewissen Grad war das auch so. Doch für sie hatten sich seit Philippes Geburt die Prioritäten vollkommen verändert, und sie fand, dass ein Kind nicht nur das Recht auf eine Mutter, sondern auch auf einen fürsorglichen Vater hatte.
An dem Morgen vor dem schicksalhaften Rennen in Cortina hatte sie ihn wieder einmal daran erinnert und angekündigt, dass sie mit Philippe zurück nach Breckenridge gehen und so lange bleiben würde, bis er sie beide
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