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Liegen lernen

Liegen lernen

Titel: Liegen lernen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Frank Goosen
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Flittchen.«
    Ich hob die Hand, um ihr zu zeigen, daß ich sie verstanden hatte. Sie lief weiter.
    Die S-Bahn-Station war verlassen, bis auf mich selbst und einen schlafenden Skinhead. Ein dicker Speichelfaden hing ihm von der Unterlippe auf seine olivgrüne Bomberjacke. Seine Stiefel waren sehr sauber.
    Nach zehn Minuten kam eine Bahn. Ich stieg in einen völlig leeren Wagen ein, und der Skinhead folgte mir. Die Bahn fuhr los. Der Skinhead beobachtete mich. Bis Wannsee passierte nichts. Dann sagte der junge Mann quer durch den ganzen Wagen: »Ich bin kein richtiger Skin!«  
     
    Ich sagte nichts, und der Junge sah aus dem Fenster. Ein paar Minuten später sah er mich wieder an und rief: »Natürlich bin ich Skin. Aber nicht so einer, wie Sie denken. Ich bin links, ehrlich. Ich wähle PDS. Ich bin ein Redskin. Aber bei mir im Viertel wohnen so viele rechte Skins. Wenn ich so rumlaufe, kriege ich wenigstens nicht ständig auf die Fresse. Aber ich bin nicht so einer, wie Sie vielleicht glauben. Ich wähle PDS!«
    Ein paar Minuten war jetzt wieder Ruhe. Dann machte er weiter.
    »Also, ich darf ja noch nicht wählen. Aber wenn ich wählen dürfte, würde ich PDS wählen, ehrlich. Ich bin nicht so einer, wie Sie glauben.«
    »Gut!« sagte ich.
    »Ich wollte das nur mal sagen! Nicht, daß Sie denken, ich bin so ein… so ein… Naja, so einer eben.«
    Für den Rest der Fahrt hielt er den Mund. Als ich am Bahnhof Zoo ausstieg und noch mal einen Blick zu ihm herein warf, winkte er mir zu, und ich hätte schwören können, daß er Tränen in den Augen hatte. Deutschland war ein merkwürdiges Land.
    McDonald’s hatte noch geöffnet. Ich mußte irgendwie die Nacht herumbringen. Ich gönnte mir einen Kaffee, setzte mich ans Fenster und dachte an nichts. Um ein Uhr wurde zugemacht, und ich machte mich auf den Weg die Budapester Straße hinunter, ließ die Gedächtniskirche rechts liegen. Ich mußte schlafen, und zwar richtig, nicht nur ein paar Minuten in einem Stuhl, nicht nur zwei Stunden im Auto. Meine Knochen fühlten sich an wie mit flüssigem Blei gefüllt. Meine Augen brannten. Ich mußte in Bewegung bleiben. Ich durfte nicht riskieren, hier irgendwo an einer Straßenecke einzuschlafen.
    Die Budapester wurde zur Stülerstraße. Dann bog ich links in die Hofjägerallee ein und kam zum Großen Stern an der Siegessäule. Von dort ging ich mitten auf der Straße des 17. Juni auf das Brandenburger Tor zu. Mehrere Scheinwerfer strahlten es an. Ich stand mitten auf dem Platz vor dem Brandenburger Tor, der »Platz vor dem Brandenburger Tor« hieß. Durch das Tor kam ein Mann auf mich zu. Vielleicht eine Aufsichtsperson, die dafür sorgte, daß keine Menschen mitten auf dem Platz vor dem Brandenburger Tor standen und den Verkehr störten? Es war fast gar kein Verkehr.
    Der Mann stellte sich neben mich, wir sahen gemeinsam zur grünkupfernen Quadriga hinauf, und der Mann sagte: »Das ist das Brandenburger Tor!«
    »Aha«, sagte ich.
    »Wir haben nur eins davon«, sagte der Mann, als hätte ich nach einem zweiten gefragt. Er war ziemlich klein, aber gut gekleidet, trug einen dunklen Anzug mit einer schreiend gelben Weste und einem pinkfarbenen Hemd darunter.
    »Sind Sie das erste Mal in Berlin?«
    Ich schüttelte den Kopf.
    »Na, dann wissen Sie ja, wie das ist.«
    Ich nickte. Der Mann sagte: »Kommen Sie, wir gehen was trinken.«
    Wir gingen durch das Tor. »Das hier ist Unter den Linden«, sagte der Mann. Wir kreuzten die Friedrichstraße, gingen an der Oper und am Palast der Republik vorbei, dann nach rechts ins Nikolai-Viertel. Dort fanden wir eine kleine Kneipe, die noch geöffnet hatte.
    Der Mann hieß Wolf gang und sagte, er gehe gern nachts spazieren, einfach so. Er könne nämlich nicht schlafen, habe seit drei Jahren kein Auge zugemacht, seit seine Frau ihn verlassen habe. »Ich habe wohl Angst, genau den Moment zu verschlafen, wo sie zu mir zurückkommt.« Er lachte kurz auf. »Das ist natürlich Quatsch, aber…« Er sagte, er habe zwei Kinder, die bei ihrer Mutter und deren neuem Lebensgefährten wohnten.
    »Sie sehen müde aus«, sagte er.
    Ich sagte, ich hätte seit Tagen nicht mehr geschlafen, und er lud mich ein, bei ihm zu übernachten.
    »Gut«, sagte ich.
    Er wohnte in einem der Plattenbauten an der Leipziger Straße, sechster Stock, und der Fahrstuhl war außer Betrieb. Er kam mit wenig Möbeln aus, im Wohnzimmer standen nur zwei Ledersessel und ein kleiner Tisch. Auf dem Boden standen ein CD-Player und ein

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