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Liegen lernen

Liegen lernen

Titel: Liegen lernen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Frank Goosen
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Natürlich müsse ein Raucherraum für die Oberstufe her, da es ein Unding sei, daß Rauchwillige bei Wind und Wetter sich vor dem Gebäude auf der Straße treffen müßten, was überdies ein versicherungsrechtliches Problem darstelle. Doch bei allem, was sie auf die Beine stellen wolle, sollten wir immer daran denken, daß sie nur unsere Vertreterin, die Erfüllungsgehilfin des Schülerinnen- und Schülerwillens, nicht aber unsere Vortänzerin sein könnte, die Initiativen müßten von uns selbst getragen werden, wir selbst hätten es in der Hand, Einfluß auf das zu nehmen, was Einfluß auf uns ausübe, nur so hätten wir die Möglichkeit, uns ein Stück Selbstbestimmung in einer fremdbestimmten Welt zu erkämpfen, ein Kampf, der uns jedoch keine Angst machen dürfe, sondern den wir als Chance begreifen müßten, als Chance, die Ausbildung unserer Persönlichkeit nicht anderen zu überlassen, sondern sie in die eigenen Hände zu nehmen.
    Und dann legte sie das Mikrofon auf den Boden und setzte sich wieder.
    Ein paar Sekunden lang war es sehr still. Dann aber fing irgend jemand an zu klatschen, und die anderen fielen mit ein, und schließlich wurde gejohlt und gepfiffen und geschrien. Siegfried trommelte mit den Fingern hektisch auf der Tischplatte herum, stand schließlich auf, ging nach vorn und bückte sich nach dem Mikro. Er betonte, im Gegensatz zu seiner Vorrednerin wolle er nicht zu so platter, billiger Polemik greifen.
    Erste Pfiffe. Das Hochpeitschen pubertärer Emotionen sei seine Sache nicht. Mehr Pfiffe. Aber dieses Vorgehen wolle er der Unerfahrenheit seiner um einige Jahre jüngeren Gegenkandidatin zugute halten. Erste Buhrufe. Ferner wolle er darauf hinweisen, daß ein Schülersprecher nicht über ein allgemeinpolitisches Mandat verfüge, ja daß die politische Betätigung eines gewählten Schülervertreters auch rechtlich schlichtweg verboten sei. Und er könne sich nicht vorstellen, daß die Mehrheit der Schülerschaft, besonders aber die reiferen Jahrgänge, sich außerhalb der Gesetze bewegen wolle. »Wieso nicht?« rief Mücke, und ein paar Leute lachten.
    Natürlich sei auch er, fuhr Siegfried fort, für Rock- und Folkabende, und auch für einen Raucherraum wolle er sich einsetzen, und zum Thema Schülercafe habe er vor allem zu sagen, daß eine solche, sicherlich sehr begrüßenswerte Einrichtung, wolle sie langfristig überleben, auch die Frage der Wirtschaftlichkeit bedenken müsse. Allgemeines Stöhnen.
    Mittlerweile waren vor allem die Fünft- und Sechstkläßler in den ersten Reihen unruhig geworden, Pärchen begannen herumzuknutschen, und ein paar Plätze neben mir packte jemand ein Leberwurstbrot aus. Siegfried hörte irgendwann auf, weil sowieso keiner mehr zuhörte. Er gab das Mikrofon an Schmalendorf zurück und setzte sich wieder. Sein Nebenmann klopfte ihm halbherzig auf die Schulter. Siegfried schüttelte den Kopf.
    Jetzt durften Fragen gestellt werden. Es kamen keine. Wir machten unsere Kreuze, standen auf, drängelten uns zum Ausgang durch und warfen die Wahlzettel in eine der beiden hölzernen Urnen, die im Foyer auf einem Tisch standen.
    Bis zum Beginn der nächsten Stunde war noch etwas Zeit. Mücke ging nach draußen und rauchte. Ich saß in der Pausenhalle und schrieb die Mathehausaufgaben vom langen Schäfer ab. Dann ging plötzlich die Tür zum Schulhof auf und Britta kam herein. Mir fiel das Heft von den Knien. Sie sah mich an. Sie lächelte. Sie sagte: »Hallo!« Ich sagte auch »Hallo!«, aber es hörte sich an wie »Urgh!« Sie ging an mir vorbei zu den Mädchentoiletten. Ich holte mein Portemonnaie hervor und zählte mein Geld. Dann ging ich in die Stadt und kaufte mir »Bob Dylan live at Budokan«.

2
    Als Kind soll es ja eigentlich ganz leicht sein, zu wissen, was man will. Ich wollte vor allem: groß werden. Aber dummerweise reichte das nicht aus, denn groß wurde man ja sowieso. Man mußte noch mehr wollen. Ständig mußte was gewollt werden. Ich weiß nicht, wie oft meine Mutter zu mir sagte: Ich möchte wissen, was du eigentlich willst. Immer wieder kam es zu Situationen, in denen man sagen mußte, was man wollte. An der Supermarktkasse gestattete mir meine Mutter, eine Süßigkeit mitzunehmen. Da waren aber so viele: Die drei Musketiere zum Beispiel, ein geflochtener Schokoladenstrang mit Karamel gefüllt. Das Ding sah aus wie ein Zopf, und wenn man reinbiß, dann konnte man das Karamel mindestens einen halben Meter lang ziehen, und wenn man es kaute, dann

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