Lilienblut
sehen. Hinter ihr lag der Wald, und erst viel weiter vorne mündete die Piste in die Straße. Von ferne hörte sie ein Auto vorüberrauschen – zu weit, um Hilfe zu holen, zu rufen oder sich aus dieser schrecklichen Situation zu retten.
»Amelie wollte immer nur haben.« Lukas kam noch näher. »Aber nie geben. Ist dir das mal aufgefallen?«
»Aber das ist doch kein Grund, jemanden zu töten!«
»Ich habe sie nicht getötet!« So schnell, dass sie nicht mehr reagieren konnte, hatte er sie gepackt. »Er war es! Er hat ihr den Kopf verdreht mit diesem Irrsinn, abzuhauen. Sie hat mich stehen gelassen und ist vorbeimarschiert mit ihrer Reisetasche. Er war es! Er!«
»Lass mich gehen«, wimmerte Sabrina. »Bitte lass mich gehen!«
Sein Gesicht war so nah, dass sie seinen Atem auf ihren Wangen spürte. Seine Hände wanderten an ihren Hals. »Ja«, flüsterte er. »Das hat sie auch gesagt, deine Freundin Amelie.« Er hielt sie fest. Seine Finger waren eiskalt und schnürten ihr die Luft ab.
»Lass sie los.«
Lukas’ Hände lockerten sich. Wie ein Stier, den man an den Hörnern packte, drehte er sich um. Kilian stand da, keine zehn Meter entfernt, in der Hand das Messer. Er musste gerannt sein, um sie einzuholen, denn er atmete schwer wie ein Marathonläufer.
Sabrina tastete nach ihrer Kehle und holte röchelnd Luft.
Mit einer theatralischen Geste riss Lukas sich das Hemd auf.
»Ah! Willst du mich auch töten? Mach dich nicht lächerlich. Die Polizei ist schon alarmiert.«
»Ich weiß.« Kilian ließ das Messer sinken, aber nur so weit, dass er es jederzeit wieder als Waffe einsetzen konnte. »Die Frist läuft ab. Sie sind schon unterwegs und werden einen von uns holen.«
Sabrina taumelte zwei Schritte zurück und tastete nach der Motorhaube, um sich abzustützen. Ihre Beine trugen sie nicht mehr so richtig. Einen von uns … Sie stand genau in der Mitte zwischen den beiden Männern.
Kilian steckte das Messer weg und hielt ihr die Hand entgegen. »Komm zu mir, Sabrina.«
»Tu es nicht! Er hat Amelie getötet!«
Sabrina sah von einem zum anderen. Dann holte sie tief Luft und sprintete los. Über die Straße, hinein in den Wald, immer weiter, immer schneller.
»Sabrina!«, schrie Kilian.
In diesem Moment peitschte ein Schuss. Sabrina sprang über einen kleinen Graben, kam mit dem rechten Bein auf und hörte ein Knirschen. Dann jagte ein fürchterlicher Schmerz
in ihren Knöchel, sie stürzte, rollte eine Böschung hinab und blieb halb ohnmächtig liegen. Ihr Bein sah merkwürdig verdreht aus. Sie versuchte es zu bewegen, aber die Schmerzen raubten ihr fast den Verstand. Sie lag in einer Kuhle, die sie von oben nicht gesehen hatte. Die Straße musste ganz in der Nähe sein, aber sie konnte sie nicht erreichen. Tränen der Wut stiegen ihr in die Augen. Sie versuchte, wenigstens auf die Knie zu kommen, da hörte sie es.
Schritte. Jemand kam näher. Laub und kleine Zweige raschelten. Sabrina hielt den Atem an. Wer von den beiden es auch war, ihre Chancen standen fünfzig zu fünfzig, gleich ihrem eigenen Mörder zu begegnen.
»Sabrina?«
Der Ruf war leise, fast flüsternd. Sie duckte sich instinktiv wie ein gehetztes Wild, wenn die Häscher es stellten. Über ihr tauchte eine dunkle Gestalt auf und blieb am Rand der Senke stehen. Es war Lukas. Blutspritzer bedeckten sein aufgerissenes Hemd. In der rechten Hand hielt er eine Pistole. Es musste die Waffe sein, die sie Silvester im Handschuhfach gesehen hatte.
»Lukas!« Vorsichtig versuchte sie sich zu bewegen, sank aber mit einem Schmerzenslaut wieder zurück. Es ist doch nur eine Schreckschusspistole, dachte sie. Aber woher kam dann das ganze Blut?
»Ich hab das nicht gewollt. Glaub mir, ich hab es nicht gewollt!«
Sein Arm zitterte, als er auf Sabrina zielte.
»Du?«
»Sie hat mich ausgelacht. Sie kam vom Schiff, weil dieser Arsch ihr einen Korb gegeben hat. Und sie lacht mich aus! Ich wollte ihr nichts tun. Wirklich nicht. Ich wollte sie nur festhalten, und da hat sie sich gewehrt und ist hingefallen und mit dem Kopf auf einen Stein …«
Das Blut rauschte in Sabrinas Ohren. Keine zwei Meter entfernt ging Lukas in die Hocke, die Pistole immer noch im Anschlag. Ein bleicher Morgen brach an, und aus dem zähen
Nebel traten die verwischten Konturen der kahlen Wipfel über ihr hervor wie schwarze Gerippe. Sie war verloren. Sie sah Lukas und konnte nicht glauben, dass er es war, der sie töten würde. Lukas, der sie unter Einsatz seines Lebens gerettet
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