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Lilienblut

Lilienblut

Titel: Lilienblut Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Elisabeth Herrmann
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Sommer

    Diese tiefe, schwere Stille, die plötzlich zu atmen schien, als das leise Wispern und Raunen sich von ihr löste und sie flüsternd und raschelnd durchwob.
    Er lag ausgestreckt in seiner Koje und starrte an die Decke. Es musste ein heller Mond draußen scheinen. Die zitternde Spiegelung von Wasser und Schilf tanzte über die Wände und tauchte die Kajüte in ein silbrig-fahles Licht. Der Wind knisterte im Röhricht. Ab und zu plätscherte etwas, als würde jemand einen Stein ins Wasser werfen. Das waren die Fische, die von der Sonne träumten.
    Er schloss die Augen und versuchte zu schlafen. Das Schiff lag versteckt, niemand würde es finden. Es war eine gute Idee gewesen, an diesen Ort zurückzukehren. Lange hatte er überlegt, ob er es tun sollte. Er wusste nicht, wohin mit sich und dem Kahn, weder stromauf noch stromab konnte er lange an einem Platz bleiben. Er war ein Getriebener. Er war auf der Flucht. Er wusste nicht mehr, wie lange schon, sie kam ihm vor wie eine endlose Odyssee, und es gab keinen Hafen, in dem er Ruhe finden konnte. Schließlich war ihm diese Stelle in den Sinn gekommen.
    Er hörte den vielen Stimmen der Stille zu. Manche nannten den Ort verwünscht, das waren die Romantiker. Die sahen die Geister über dem Wasser. Andere nannten ihn verflucht. Das waren die Realisten. Die erinnerten sich an das, was hier geschehen war, und an das Blut, das vom Deck getropft war und sich in schwerelosen Schleiern aufgelöst hatte wie Tinte in einem Glas Wasser. Keiner, weder die Romantiker noch die Realisten und schon gar nicht die, die so schnell vergaßen, würde ihn hier vermuten. Es lag jenseits aller Logik, sich ausgerechnet hier zu verstecken. Und genau deshalb fühlte er sich nach langer Zeit endlich sicher.
    Das zitternde Licht störte ihn immer noch. Er stand auf und ging ans Fenster, um die Vorhänge zuzuziehen. Dabei warf er einen Blick
hinaus in die Dunkelheit. Das Wasser stand ruhig. In seiner dunklen Oberfläche spiegelten sich die Berge. Der Wald hatte sich über sie gelegt wie ein schweres Tuch. Man konnte die Gipfel und die schroffen Hänge darunter erahnen und wie tief der Fluss sein musste und wie reißend seine Strömung da draußen, wenn er so von den steilen Uferfelsen eingezwängt wurde. Er hatte befürchtet, der alte Kahn würde es nicht mehr bis zu diesem Seitenarm schaffen. Die Fließgeschwindigkeit war selbst am Ufer noch hoch und das steinige Flussbett eine Herausforderung. Unruhig hatte er die Stromkilometer gezählt und sich mehrmals gefragt, ob er sich vielleicht doch geirrt hatte. Vielleicht gab es den Zugang auch gar nicht mehr?
    Er war lange nicht mehr hier gewesen. Es war viel geschehen in den letzten Jahren entlang des Rheins. Sandbänke waren Spundwänden gewichen, Häfen geschlossen worden, Ufer begradigt und befestigt. Dörfer wurden Städte. Brücken hatten Fähren ersetzt. Inseln hatten Dämme bekommen und waren längst bebaut. Je näher er an Stromkilometer 614 herangekommen war, desto aufmerksamer hatte er das Ufer beobachtet. Bis er schließlich den fast überwucherten Zugang gefunden hatte.
    Wie ein Geist war das Schiff hinter den Wald der Halbinsel geglitten und keine drei Minuten später vom Flussradar verschwunden. Wieder versuchte er sich zu erinnern, wie die Leute diese Ecke genannt hatten. Bis zu jenem schwarzen Tag war es die Namedyer Bucht gewesen. Doch dann hatten sie ihr einen neuen Namen gegeben. Einen Namen, der das Grauen schon beim Flüstern in sich trug; der erinnerte an das, was sich hier abgespielt hatte; den er vergessen hatte, so wie er auch lange Zeit verdrängt hatte, dass das Grauen immer noch in ihm lebte.
    Er zog die Vorhänge mit einem Ruck zu und legte sich wieder hin. Es dauerte nicht lange und seine Ohren hatten sich an das Flüstern des Wassers gewöhnt. Ein Baumstamm rieb sich an einem anderen. Eine Rohrdommel schrie im Schlaf. Die Blätter rauschten und das Schilf wisperte. Er dämmerte weg in seine Träume. Bis die Schritte kamen und das Licht durch den Spalt unter der Tür kroch und der Duft ihn weckte. Dieser Hauch einer Erinnerung, wie er in
selten betretenen Räumen haften blieb, in Schränken, die man lange nicht geöffnet hatte, oder in Betten, wenn man die Decke hob. Ein Duft, den er geliebt hatte und der nun ein dunkles Entsetzen auslöste; eine Erinnerung, die ihn selbst im Schlaf noch verfolgte; das Nahen der bestürzenden Erkenntnis, einen Schritt vor dem Abgrund zu stehen und die Balance zu verlieren; aus einem

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