Lorettas letzter Vorhang
übelriechenden, labyrinthischen Anhäufungen uralter Häuser und Hütten versprach. In der Tat fand man nach wenigen Schritten von allem ein wenig. Ein paar dünne Bäume, einen Stall für Mietpferde und einige Reihen kleiner Häuser aus nicht mehr ganz geradem Fachwerk, die sich matt aneinanderlehnten. Mittendrin erhob sich stolz das neue Hamburger Nationaltheater. Von denen, die das Schauspiel für ein ganz und gar überflüssiges oder gar sündhaftes Vergnügen hielten, wurde das Haus allerdings als eine etwas zu groß geratene hölzerne Scheune verlacht, deren ärmlichen Eingang ein schrulliger Gutsherr mit zwei dünnen Säulen geschmückt hatte.
Rosina stapfte in den von Nässe und Schlamm schweren Holzschuhen aus dem Gang in den Hof. Das mit der Scheune war tatsächlich nicht ganz falsch. Aber kam es bei einem Theater etwa auf die äußere Pracht an? Selbst dassächsische Hoftheater in Dresden hatte nur eine bescheidene Fassade, und niemandem würde einfallen, seinen Besitzer, den sächsischen Kurfürsten, als ärmlichen Mann zu bezeichnen.
Mit seinem ebenfalls recht schlichten Innenraum allerdings unterschied sich das Hamburger Theater erheblich von der goldenen Pracht des sächsischen. Aber egal, es war doch ein richtiges Theater mit einer großen Bühne, mit raffinierten Kulissen, Flugwerken und Windmaschinen, mit Logen und Galerie. Es war prächtiger als jede Bühne, auf der Rosina zuvor gestanden hatte.
Sie sah an dem hohen, breitgiebeligen Gebäude hinauf und seufzte. Alle Fenster waren weit geöffnet, auch im Theater roch es nach der regenschweren Zeit feucht und muffig, trotzdem war keine einzige streitende Stimme zu hören. Das war zwar ungewöhnlich, geradezu beunruhigend, aber doch sehr angenehm. Vielleicht, dachte sie, war einfach noch niemand da. Aber nein, da flog der helle, etwas näselnde Klang einer Oboe herüber. Rosina war nicht sicher, ob die leichte Melodie aus einem der Theaterfenster oder mit dem sanften Wind von den Häusern bei den Kalkhöfen am Alsterufer kam. Von denen, die dort lebten, würde allerdings kaum jemand eine Oboe besitzen.
Am Bühneneingang an der Rückseite des Gebäudes schlüpfte sie aus Holzschuhen und Strümpfen, schöpfte Wasser aus der randvollen Regentonne und wusch ihre Füße. Ihr nun schlammbraunes Schultertuch, das kostbare Abschiedsgeschenk von Helena, würde bis zum Abend auf ein Bad warten müssen.
Die zwölf Männer, die das Theater vor einem halben Jahr gepachtet und unter dem stolzen Titel Hamburger Nationaltheater neu eröffnet hatten, hatten hier die besten Schauspieler und Schauspielerinnen aus dem ganzenLand versammelt. Als Monsieur Seyler, der Direktor, im August auch bei der Beckerschen Komödiantengesellschaft auftauchte, um Rosina nach Hamburg zu engagieren, hatte sie der großen Ehre nicht widerstehen können. Sie verließ die Beckersche Komödiantengesellschaft, mit der sie sieben Jahre durch die deutschen Länder gezogen war. Seither war kein Tag vergangen, an dem sie diese Entscheidung nicht wenigstens für einen kleinen Moment bereut hatte.
Sie lief die Treppe hinauf, die Tür zur Garderobe der Frauen stand weit offen. In dem länglichen Raum sah es aus, als erwarte er eine Inspektion. Alle Kostüme hingen in seltener Ordnung auf den langen Stangen an der hinteren Wand, die Körbe mit Hüten, Miedern und Bändern, Schals, Schuhen und Flitter waren akkurat verschlossen, sogar die Tiegel und Dosen mit Schminke und Fett standen aufgereiht wie Zinnsoldaten auf den Tischen an der Wand zwischen den Fenstern.
Rosina sah die glänzenden bunten Stoffe, atmete den Duft von Staub, Puder und Farben, den es nur in einer Theatergarderobe gab, und wußte, daß sie es ganz bestimmt noch ein wenig aushalten wollte.
Die Garderobe hatte zwei Türen, eine – durch die Rosina gerade hereingekommen war – führte zum Flur und über eine Treppe zum hinteren Ausgang. Durch die zweite, etwas breitere am anderen Ende des Raumes gelangte man zu den Gängen hinter den Kulissen und auf die Bühne. Von dort hörte Rosina nun doch leise Stimmen. Jedenfalls waren sie am Anfang leise, und sie beachtete sie nicht. Aber gerade, als sie beschloß, ein wenig in dem Kasten mit den Textbüchern zu stöbern anstatt ihrer Pflicht nachzukommen und die Kostüme für die heutige Aufführung auf Risse und Löcher zu untersuchen, wurden dieStimmen lauter. Rosina vergaß Textbücher und Kostüme, spitzte die Ohren und öffnete, da man durch verschlossene Türen nun mal
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