Kebabweihnacht
|5|
A N EINEM HEISSEN Augusttag, mitten in einer großen deutschen Stadt, gab es die ersten Anzeichen dafür, dass sich dieses Jahr ein Weihnachtswunder ereignen würde. Nicht so ein Wunder wie die Verwandlung von Wasser in Wein. Vielmehr die Verwandlung eines verhärteten Herzens in ein akzeptierendes und annehmendes – was vielleicht ein noch viel größeres Wunder war. Wenn man außerdem bedenkt, dass es ein muslimisches Weihnachtswunder war, dann gibt es keinen Zweifel daran, dass Weihnachten etwas Besonderes ist. Natürlich bietet sich Weihnachten geradezu an für Wunder, auch ohne Weihnachtsmann und Weihnachtsmarkt. Aber was soll man sagen, wenn dann just diese Umstände geradewegs zum Wunder führen? Zum muslimischen Weihnachtswunder?
Ich will Ihnen besagte Geschichte erzählen, und dann sollen Sie selber urteilen, ob das Wunder durch Weihnachten bewirkt wurde oder ob das Wunder zu dem geführt hat, was wir als Weihnachten so schätzen und lieben. Zugegeben: Nicht alle lieben Weihnachten, aber einige schon. Und zu diesen Leuten, die alles, was Weihnachten ausmacht, |6| so schätzen und lieben, gehört Umut, unser kleiner Held.
Aber alles der Reihe nach. Richten wir unseren Blick auf eine deutsche Großstadt an einem heißen Augusttag. An einem solchen treffen wir unseren Weihnachtshelden Umut an seinem Ausbildungsplatz in einem namhaften Kaufhaus an.
Umut ist siebzehn Jahre alt, ein hübscher und sanfter Junge, dessen Eltern aus der Türkei stammen, aus der Osttürkei, um genau zu sein, aus Malatya, um ganz genau zu sein.
Gerade ist der Ausbildungsleiter dabei, die Nachwuchskräfte auf Weihnachten und das Weihnachtsgeschäft einzustimmen. Umut ist sehr froh, diesen Ausbildungsplatz gefunden zu haben, aber das ist nicht der einzige Grund, weswegen er dem Ausbildungsleiter sehr gespannt, ja geradezu enthusiastisch zuhört:
»Wir werden euch Auszubildenden nichts zumuten, was ihr nicht bewältigen könnt«, sagte der Ausbildungsleiter, »aber ihr werdet sehen, dass das Weihnachtsgeschäft für uns von größter Wichtigkeit ist, was den Umsatz betrifft, ja ich möchte klipp und klar feststellen, der Dezember ist unser umsatzstärkster Monat, so dass ihr alle im Dezember wahrscheinlich Überstunden machen müsst. Einige werden auch an Heiligabend arbeiten müssen, wenn es sich nicht anders einrichten lässt.«
»Dürfen alle arbeiten?« Umuts Frage löste bei den anwesenden Azubis ein Gelächter aus.
|7| »Arbeiten dürft ihr immer«, lachte der Ausbildungsleiter, »wir wollten euch entgegenkommen und euch für Heiligabend möglichst von der Arbeit freistellen. Aber wenn Sie unbedingt arbeiten wollen!«
Er lächelte freundlich, aber Umut erwiderte dieses Lächeln nicht. Zum einen wäre es nicht besonders förderlich, wenn die anderen jetzt von ihm denken würden, er sei ein Streber, der dem Chef Honig um den Bart schmieren wolle. Aber das war das kleinere Übel. Wenn es zum anderen jetzt hieß, sie bräuchten Heiligabend nicht zu erscheinen … er spürte, wie eine kleine Schreckwelle seinen Körper durchfuhr.
»Ich würde gerne arbeiten, Heiligabend«, stotterte er, »mir macht das nichts aus, ich bin ja Türke, und wir feiern gar kein Weihnachten, es ist für uns ein ganz normaler Tag, deswegen macht es mir nichts aus, Heiligabend zu arbeiten, dann können die anderen frei haben!«
Die Azubis schauten Umut an. Diese Mitteilung schien allen zu gefallen.
»Wenn Sie meinen«, sagte der Chef, »dann teilen wir Sie jetzt schon für den Dienst an Heiligabend ein.«
»Sehr gerne!«
In den Augen der anderen war Umut ein selbstloser Zeitgenosse. Selbstlos war Umut schon, aber nur ein bisschen, denn in Wahrheit war Umut ein Weihnachtsjunkie. Er liebte Weihnachten über alles, ja, er war Weihnachten mit Haut und Haaren verfallen, aber er konnte es nicht zugeben.
|8| Jetzt werden Sie bestimmt denken, das ist doch nichts Besonderes, sehr viele Menschen sind Weihnachten mit Haut und Haaren verfallen, die das nicht zugeben können. Natürlich ist mir bekannt, dass von denen, die über die Weihnachtszeit jammern und klagen, sich mindestens siebzig Prozent verstellen. Sie lieben Weihnachten, und nur weil es Mode ist, über die Weihnachtszeit zu jammern, tun sie es. Sie schauen Ihnen in die Augen und lügen, wenn sie erzählen, dass ihnen »der ganze Rummel« – wie sie sagen – »zu viel ist«. In Wirklichkeit lieben sie den Rummel und das Gedränge in den Geschäften, die kitschige Weihnachtsdekoration und die
Weitere Kostenlose Bücher