Lying: Gibt es gute Lügen? (German Edition)
häufigsten nach. Sie sind die einzige Form von Lügen, auf die auch die sogenannten Gutmenschen zurückgreifen, in der festen Überzeugung, sie täten damit das Richtige.
Notlügen
Haben Sie jemals etwas geschenkt bekommen, was Ihnen überhaupt nicht gefallen hat? Man sollte meinen, in der Zeit, die Sie fürs Auspacken brauchen, hätten Sie sich wappnen können – doch es ging alles viel zu schnell:
»Nicht schlecht, Herr Specht ...«
»Gefällt es dir?«
»Das ist unglaublich. Wo hast du das denn her?«
»Aus Bangkok. Gefällt es dir?«
»Wann warst du denn in Bangkok?«
»Über Weihnachten. Gefällt es dir?«
»Ja, ... klar. Wo warst du denn überall in Thailand?«
Ein aufmerksamer Beobachter merkt, dass mir nun der kalte Schweiß ausbricht. Ich bin für so etwas schlicht und einfach nicht gemacht. Ganz allgemein kann ich sagen, dass ich mittlerweile gelernt habe, ehrlich zu sein, auch wenn mich eine Situation völlig überrascht. Ich bin zwar nicht immer glücklich darüber, welche Formen meine Aufrichtigkeit annimmt –, doch eine der Stärken, wenn man bei der Wahrheit bleibt, ist, dass man das Gesagte noch vertiefen oder erklären kann. Es kann schon passieren, dass man im Eifer des Gefechts nicht die passenden Worte findet, aber das lässt sich ja nachholen. Ich habe gelernt, dass ich lieber als taktlos oder sogar unhöflich gelte, als unehrlich zu sein.
Was hätte ich in der oben beschriebenen Situation ehrlich antworten können?
»Toll ... ist das etwas zum Anziehen, oder kann ich es an die Wand hängen?«
»Das trägst du, wenn es draußen kalt ist. Gefällt es dir?«
»Na, weißt du, ich finde es sehr schön, dass du an mich gedacht hast. Aber irgendwie passt das so gar nicht zu mir. Mein Kleidungsstil bewegt sich zwischen spießig und sehr spießig.«
Mit diesem Dialog wäre ich schon viel zufriedener. Streng genommen könnte man von Euphemismus sprechen, aber die grundlegende Kommunikation ist aufrichtig. Ich habe meiner Freundin gesagt, dass es eher unwahrscheinlich ist, dass ich dieses Teil bei unserem nächsten Treffen tragen werde. Und ich habe ihr die Möglichkeit gegeben, es entweder zu behalten oder jemandem zu geben, dem es gefällt.
Manche Leser wundern sich vermutlich, warum ich einen regressiven Schritt in die Unverblümtheit der frühen Kindheit empfehle. Schließlich lernen kleine Kinder erst im Alter von etwa vier Jahren, bewusst auf Notlügen zurückzugreifen, und meistens haben sie vorher auf die harte Tour erfahren, wie es um die Befindlichkeiten ihres sozialen Umfelds bestellt ist. 8 Doch es besteht kein Grund anzunehmen, dass die sozialen Konventionen, die sich in Primaten wie uns im Alter von etwa elf Jahren stabilisieren, zu optimalen zwischenmenschlichen Beziehungen führen. Ganz im Gegenteil: Es gibt viele gute Gründe, die dafür sprechen, Lügen auszumerzen, wenn wir eine bessere Welt wollen.
Doch was genau ist denn nun so schlimm oder verwerflich an Notlügen? Erstens: Auch Notlügen sind Lügen. Und wenn wir darauf zurückgreifen, handeln wir uns damit alle Probleme ein, die entstehen, wenn wir mit unseren Mitmenschen nicht aufrichtig und ehrlich kommunizieren. Ein moralisch unantastbares Verhalten basiert nun mal auf Ehrlichkeit, Authentizität, Integrität sowie gegenseitigem Verständnis und vielem mehr. All das zerstören wir, indem wir unsere Überzeugung bewusst für uns behalten oder verdrehen – ganz gleich, ob unsere Lügen jemals auffliegen werden oder nicht.
Problematisch ist, dass wir davon überzeugt sind, dass wir bestimmte Lügen aus unserem Mitgefühl gegenüber den Mitmenschen heraus auftischen oder dass sich der Schaden, den wir dabei anrichten, kaum messen lässt. Durch unsere Lügen enthalten wir unseren Freunden die Realität vor – und aufgrund ihrer Unwissenheit werden sie dann viel stärker verletzt, als wir uns das jemals hätten vorstellen können. Es ist durchaus denkbar, dass unsere Freunde auf unsere Unwahrheiten reagieren oder bestimmte Probleme nicht lösen, weil sie das nur tun können, wennwir ihnen die dafür benötigen Informationen geben. Nur allzu oft beschneiden wir mit unseren Lügen die Freiheit all derer, die uns am Herzen liegen.
Dazu ein grundlegendes Beispiel:
»Sehe ich in diesem Kleid dick aus?«
Für die meisten Menschen gibt es keine andere Antwort auf diese Frage als ein entschiedenes »Aber nein!«. Viele empfinden die Frage noch nicht mal als Frage, sondern als Aufforderung der Frau: »Sag mir, dass ich
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