Lying: Gibt es gute Lügen? (German Edition)
besser wäre, wenn jemand, der diese Schule länger besucht hatte als ich, die Rede hält. Doch das war gelogen. In Wahrheit hatte ich schreckliche Angst davor, eine Rede vor so vielen Leuten zu halten und hätte fast alles getan, um diesem Horror zu entgehen. Offensichtlich war ich damals noch nicht reif und einsichtig genug, um mich dieser Wahrheit zu stellen – und meine Bereitschaft, in diesem Moment zu einer Lüge zu greifen, rettete mich noch viele weitere Jahre vor einer öffentlichen Rede. Wäre ich jedoch gezwungen gewesen, dem Schuldirektor die Wahrheit zu sagen, hätte er bestimmt ein Gespräch mit mir geführt, das mich persönlich weitergebracht hätte.
Es gibt zwei Arten von Lügen
Moralische Verfehlungen lassen sich im Allgemeinen in zwei Kategorien einteilen: zum einen in alles Schlechte, das wir tun (aktives Handeln), und in alles Gute, das wir nicht tun (Unterlassungen). Interessanterweise neigen wir dazu, die Handlungen einer Person stärker zu verurteilen als deren Unterlassungen. Noch ist nicht bekannt, weshalb das so ist, aber es hängt sicherlich damit zusammen, dass wir die (kriminelle) Energie und den Willen einer bestimmten Person mit bestimmten Wertvorstellungen assoziieren.
Etwas zu tun
erfordert Energie, und die meisten Handlungen, die aus moralischer Sicht kritisch sind, werden ganz bewusst geplant.
Etwas nicht zu tun
kann aufgrund bestimmter Umstände einfach so passieren, und (kriminelle) Energie kommt meist erst dann ins Spiel, wenn es darum geht, eine Rechtfertigung dafür zu finden. Diese Unterscheidung ist sehr wichtig. Es ist eine Sache, in die Kasse zu greifen und 100 US-Dollar zu stehlen, doch es ist etwas anderes, 100 US-Dollar, in deren Besitz man versehentlich gekommen ist, nicht an den rechtmäßigen Eigentümer zurückzugeben. Aus moralischer Sicht ist beides verwerflich – aber nur beim ersten Beispiel liegt die bewusste Entscheidung vor, Geld zu stehlen. Wie sieht es nun mit der Beurteilung des folgenden Beispiels aus, wenn es jemanden mehr als 100 US-Dollar kosten würde, die fälschlicherweise aufs eigene Konto gutgeschriebenen 100 US-Dollar zurückzuüberweisen? Dann wäre doch derjenige – moralisch betrachtet – fein heraus, wenn er es nicht tun würde, oder? 7
Und genauso verhält es sich auch mit dem Lügen. Es ist eine Sache, sein Alter zu beschönigen oder nicht ganz bei der Wahrheit zu bleiben, wenn es um die eigene Karriere oder die Frage geht, ob man verheiratet ist. Doch es ist etwas anderes, Fehleinschätzungen von anderen nicht zu korrigieren. Hin und wieder werde ich als »Neurologe« bezeichnet, aber das bin ich nicht. Die korrekte Bezeichnung meines Berufs lautet »Neurowissenschaftler«. Neurologen haben Medizin studiert und sich auf die Behandlung von Hirn- und Nervenerkrankungen spezialisiert. Neurowissenschaftler haben einen Doktortitel erworben und kommen aus den unterschiedlichsten Fachrichtungen. Ich habe weder ein Medizinstudium abgeschlossen noch Erfahrung im klinischen Bereich und würde nicht einmal im Traum daran denken, mich als Neurologe zu bezeichnen. Andererseits sehe ich es nicht als meine Aufgabe an, die Verwirrung, die in diesem Punkt herrscht, aufzuklären, denn das würde zu viel Zeit und Energie kosten.(Derzeit liefert die Google-Suche nach »Sam Harris« und »Neurologe« Zehntausende von Ergebnissen.) Ganz anders verhält es sich dagegen, wenn jemand ernsthaft davon überzeugt ist, dass ich Neurologe wäre, und sich diese Fehlannahme in irgendeiner Weise negativ auswirken oder mir einen persönlichen Vorteil verschaffen würde. Dann würde ich mich schuldig machen, wenn ich die Sachlage nicht richtigstellte, und es wäre für mich eine Frage von Ehre und Gewissen, die betroffene Person über den wahren Sachverhalt aufzuklären. Eines aber weiß ich: Sollte ich diesen Sachverhalt nicht richtigstellen, würde mir dies nur eine Handvoll Menschen als Fehler vorhalten, dass ich selbst behauptet hätte, ich sei Neurologe.
In der Auseinandersetzung mit diesem Thema möchte ich mich auf Lügen durch aktives Handeln konzentrieren – also auf Lügen in ihrer reinsten Form mit allen weitreichenden Folgen. Das Meiste davon gilt jedoch auch für Unterlassungen und Unehrlichkeit im Allgemeinen. Einen weiteren Schwerpunkt stellen die Notlügen dar – also Lügen, die wir anderen in dem Glauben erzählen, sie damit vor unangenehmen Situationen oder Verletzungen bezüglich ihrer Gefühle zu schützen. Dieser Versuchung geben wir am
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