Macabros 017: Dwylup - Stadt der Monster
Kilometer. Dann kam er nach
Oberhofen. Die riesige Fläche des Thuner Sees spiegelte das
bleiche Mondlicht wider.
Enio Merkel steckte den Brief in den ersten Briefkasten am
Ortsausgang und kehrte dann in seine Berghütte zurück.
Es war ein Uhr nachts, als er wieder die Decke über die Ohren
zog, um seinen Schlaf fortzusetzen, der durch die seltsame Stimme und
den beinahe hypnotischen Zwang aufzustehen und in den Spiegel zu
sehen, unterbrochen worden war.
Der 16. Mai, der anbrach, sollte ein denkwürdiges Datum
werden.
Später erinnerte man sich daran, daß dies der Tag
gewesen war, an dem man Enio Merkel zum letztenmal sah. Ein
Schafhirte konnte sich genau daran erinnern.
*
Am 17. frühmorgens erhielt Andreas Hoffner in St. Gallen den
Brief seines alten Freundes.
Die Zeilen waren mit zittriger Hand geschrieben. Das fiel ihm
sofort auf. Auch der holprige Stil paßte nicht so recht zu
Enio. Als er diesen Text abfaßte, mußte er sich in einer
äußerst erregten Stimmung befunden haben. Hoffner kam der
Brief so vor, als wäre er ein Fragment. Ursprünglich schien
Merkel vorgehabt zu haben, mehr zu schreiben. Er hatte sich aber dann
mit diesen abgehackten Sätzen begnügt.
Andreas Hoffner lebte vom Kunst- und Antiquitätenhandel nicht
schlecht. Durch das Geschäft hatte er Merkel vor fast einem
viertel Jahrhundert kennengelernt.
Enio Merkel war in den Laden gekommen, um das Alter einer Vase
bestimmen zu lassen, die er auf einem verlassenen Hof gefunden hatte.
Dieser Fund, in der Nähe von Basel, hatte zur Folge, daß
man auf weitere Überreste einer ehemaligen römischen
Siedlung stieß.
Enio Merkel liebte Altertümer und kannte sich selbst aus wie
kein zweiter, wenn es darum ging. Zeitbestimmungen
durchzuführen.
Die gemeinsamen Interessen hatten sie näher
zusammengeführt. Für Hoffner war das Sammeln alter Dinge
nicht nur Hobby, sondern auch Geschäft. Er verkaufte vieles
wieder, und so kamen sie überein, daß Merkel zu einer Art
Zulieferer für Hoffner werden sollte. Im Lauf der folgenden
Jahre schleppte Merkel manches seltene Stück an. Hoffner zahlte
gut, und Merkel war zufrieden.
Doch schon bald wurde Merkel älter und kam seltener. Die
Reise war beschwerlich. Hoffner bedauerte das, hatte aber
Verständnis dafür. Er vermißte die Stunden, in denen
er sich mit Merkel über gemeinsam interessierende Probleme
unterhalten hatte. Der Zufall wollte es, daß sie ein weiteres
gemeinsames Hobby hatten: Die Welt der geheimen Mächte zog sie
an. Sie glaubten beide an das Übersinnliche und an eine Welt
jenseits der sichtbaren.
Merkel war auf der Suche nach etwas Bestimmtem. Diesen Eindruck
hatte Hoffner immer gehabt. Aber der alte Mann aus der Nähe von
Oberhofen konnte nicht nur gut und lebhaft erzählen, er konnte
auch schweigen.
Er war hinter einem Geheimnis her, aber er wollte erst
darüber sprechen, wenn er sicher war, es auch entdeckt zu
haben.
Jahre vergingen. Nun schien der Zeitpunkt gekommen.
Enio Merkel wollte Andreas Hoffner etwas mitteilen. Er suchte das
persönliche Gespräch und wollte offenbar einen Zeugen
haben, dem er vertrauen konnte.
Andreas Hoffner, gut zwanzig Jahre jünger als der greise
Merkel, entschloß sich noch in der gleichen Stunde, die Reise
zu machen. Dazu bedurfte es jedoch einiger Vorbereitungen. Als die
abgeschlossen waren, setzte er sich in seinen cremefarbenen Ford und
startete.
Mit seinem Entschluß. Enio Merkel zu treffen, schlitterte er
in ein tödliches Abenteuer…
*
Unterwegs hatte er eine Panne. Das verzögerte seine Ankunft.
Er kam erst am 19. spätnachmittags an.
Bevor er sich auf den Weg zum Haus machte, hielt er sich eine gute
halbe Stunde in einem gemütlichen Strandcafé am Thuner
See auf.
Hier trank er einen starken Kaffee, blickte über das stille
Wasser und genoß die Wärme des Tages.
Es war strahlend blauer Himmel. Durch die klare Luft sah man in
der Ferne die schneebedeckten Alpen.
Dieser Frühlingstag versöhnte Hoffner wieder mit dem
hinter ihm liegenden Ärger.
Von Oberhofen aus mußte er zu Fuß gehen. Auf dem
schmalen, holprigen Pfad, der zu Merkels Hütte führte, war
es unmöglich, einen Pkw zu steuern.
Der Weg ging steil aufwärts, nach gut einem Kilometer scharf
nach rechts ab. Hier oben war es bedeutend kühler als unten am
See.
Zu beiden Seiten war kahler Fels, als wäre der Weg mitten in
einen riesigen Klotz hineingeschlagen worden. Weiter abseits, dem Tal
zu, standen Tannen und dichtbelaubtes Buschwerk.
Hoffner
Weitere Kostenlose Bücher