Ein Land, das Himmel heißt
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E ine Weile stand sie reglos am Rand des Indischen Ozeans. Das klare Wasser umschmeichelte ihre Füße, der warme Seewind strich ihr die Haare aus dem Gesicht. Doch ihre Haut war klamm und gefühllos und ihr Inneres aus kaltem Stein. Sie fühlte nicht, sah nicht, hörte nicht, erinnerte sich nicht, wie sie hierher gekommen war. Eine Ewigkeit hatte sie ihn gesucht, bis sie endlich seine Spur fand, und dann war es um Minuten gegangen, und sie hatte ihn verpasst. Er hatte sich ein Auto gemietet, war auf dem Weg nach Johannesburg und von dort aus in den schwarzen Bauch Afrikas. Er war fort. Endgültig.
»Du hast Recht gehabt, es tut mir Leid, bitte verzeih mir.« Das wollte sie ihm sagen. Aber nun war es zu spät.
Mit leerem Blick schaute sie über das unendliche, sanft wogende Meer. Wie ein atmendes Wesen lag es vor ihr, die bewegte Oberfläche zersplitterte den Abglanz des Himmels in Myriaden flimmernder blauer Sterne. Leise seufzend atmete der Ozean aus, überzog den Strand mit flüssigem Silber, atmete ein, und die Wellen liefen zischend zurück. Aus und ein, aus und ein. Für immer. Bis ans Ende der Zeit.
Für immer, klang es in ihr nach, und eine Gänsehaut kräuselte ihre bloße Haut, denn erst jetzt wurde ihr bewusst, was sie ihm eigentlich sagen wollte. »Ich liebe dich«, wollte sie ihm sagen, »bitte bleib bei mir, ich kann ohne dich nicht leben.« Bis zu den Knien stand sie jetzt im Wasser. Die Wellen zerrten an dem weiten Rock ihres schwarzen Trägerkleides.
»Komm«, lockten sie, »komm mit uns, wir tragen dich.«
Sie schwankte. Mit seinem Fortgehen hatte sie auch jegliche Widerstandskraft verlassen. Dem starken Sog hatte sie nichts mehr entgegenzusetzen. Sie machte ein, zwei Schritte vorwärts, das Wasser stieg ihr bis zur Taille. Aus und ein, aus und ein, atmete sie, spürte, wie das Blut im Rhythmus der Wellen in ihren Adern strömte. Die nächste hob sie liebevoll hoch, bauschte ihren Rock. Wie eine schwarze Rose trieb sie weiter hinaus aufs Meer, bis die Strömung sie auf dem trügerisch sicheren Boden einer Sandbank absetzte. Die Farbe des Wassers wechselte an ihrem Rand in das geheimnisvolle Blau großer Tiefe.
»Komm«, seufzten die Wellen, »komm, lass dich fallen, hier ist es still, hier wird der Schmerz vergehen.«
Das Meer rauschte, eine Möwe schrie. Pfeilschnell glitt der Vogel über die Wellen, wurde vom Aufwind erfasst. Mit einem Schluchzen sah sie ihm nach, bis er nur noch ein weißer Punkt in der gleißenden Helligkeit war, ließ sich mitreißen, flog über die Landschaft ihres Lebens, suchte den Tag, an dem alles begonnen hatte. Einmal war sie unbeschwert gewesen, war ihre Welt festgefügt und ihre Zukunft sicher. Als gerader Weg lag sie im strahlenden Licht vor ihr. Es musste einen Zeitpunkt gegeben haben, an dem sich dieser Weg gegabelt hatte. Sie musste wissen, ob sie je die Freiheit gehabt hatte, die Richtung zu wählen. Schritt für Schritt ging sie zurück.
Sie fand den Punkt. Es gab dort keine Abzweigung. Der Weg führte geradewegs vom Licht in die Schwärze. Sie hatte nie eine Wahl gehabt. Keine Erfahrung hatte sie die Dunkelheit ahnen lassen, die Ängste von Nelly, der Zulu, verursachten kein Vorgefühl des kommenden Unheils.
Die erste Warnung bekam sie am Vorabend des Tages, nach dem nichts mehr so sein sollte, wie es gewesen war.
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Der Anfang
1
D ie kurze Dämmerung tauchte den Tag in indigoblaues Licht, die Nacht kroch schon aus den Bäumen hoch. Sie standen im Hof von Inqaba. Zweimal strich der Iqola auf schmalen Schwingen im Tiefflug um den Hof, und jedes Mal zeigte er ihnen seinen schwarzen Rücken. Nellys Haut verfärbte sich aschgrau. Sie wusste, dass dies großes Unglück für die Bewohner des Hauses verhieß. Hätte der Iqola ihr die weiße Unterseite gezeigt, sie hätte freudig ein Huhn geschlachtet, frisches Bier gebraut und ihre Nachbarn zu einer Feier gebeten, denn das war ein Zeichen für zukünftiges Glück. »Das Glück wird Inqaba verlassen, für sehr lange Zeit«, flüsterte die Zulu und zeigte dabei das Weiße ihrer Augen.
Jill verstand ihre Warnung nicht, hatte nur gelacht und sie in den Arm genommen. Nelly aber wurde vor ihren Augen zu Stein. Ihre massige Gestalt in dem geblümten Kleid, das dunkle Gesicht mit den großflächigen Wagenknochen, der breite Mund, der so herrlich lachen konnte. Jill streckte ihre Hand aus, berührte Nelly und erschrak. Die Haut der alten Zulu war kalt, schien nicht von Blut durchströmt zu
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