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Maerchenerzaehler

Maerchenerzaehler

Titel: Maerchenerzaehler Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Antonia Michaelis
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Puppe zu fassen und zog sie hervor. Und einen Moment lang war sie allein mit der Puppe, ehe die anderen kamen.
    Sie hielt sie im Staub vor dem Sofa auf dem Schoß und sah sie an, und es war, als erwiderte die Puppe ihren Blick. Sie war so groß wie Annas Hand, leicht, ganz aus Stoff. In das Gesicht zwischen den dunklen Zöpfen waren zwei blaue Augen gestickt, ein roter Mund, eine winzige Nase. Die Puppe trug ein geblümtes kurzes Kleid – blaue Blumen auf weißem Grund –, dessen unterer Saum ein wenig ausfranste, und eine Art Hose, die jemand, der nicht besonders gut nähen konnte, aus einem alten Stück Jeansstoff gemacht hatte. Die Blumen auf dem kurzen Kleid waren beinahe völlig verblichen, ein verschwundener Garten, nur noch zu erahnen. Die blauen Stickgarn-Augen waren abgewetzt, als hätten sie schon zu viel gesehen, sie blickten müde und ein wenig ängstlich. Anna entfernte die Staubflusen aus den Haaren der Puppe.
    »Woher kommst du?«, flüsterte sie. »Was tust du hier? Welches Kind hat dich verloren?«
    So saß sie auf dem Boden, als der erste Schwall der anderen hereinströmte, und sie hatte für einen Moment das seltsame Gefühl, die Puppe vor ihren Blicken schützen zu müssen. Natürlich war das Unsinn. Sie stand auf und hielt sie in die Höhe.
    »Gehört die jemandem?«, fragte sie, so laut, dass die Puppe zusammenzuzucken schien. »Ich habe sie unter dem Sofa gefunden. Hat einer von euch sie da verloren?«
    »Klar«, sagte Tom, »das ist meine Lieblingspuppe, Mensch, die suche ich schon seit Tagen!«
    »Quatsch, das ist meine!«, rief Hennes. »Die nehm ich jeden Abend mit ins Bett! Ohne die kann ich gar nicht einschlafen.«
    »So, so«, sagte Nicole, »na ja, andere Leuten machen es mit Hunden, warum also nicht mit Stoffpuppen …«
    »Lass mal sehen, vielleicht ist es auch meine«, mischte sich Jörg ein und nahm Anna die Puppe aus der Hand. »Ach nein, meine hatte eine rosa Unterhose. Diese hier hat gar keine Unterhose … das ist ja sehr unziemlich.«
    »Gib sie mir mal!«, rief irgendwer, und dann flog die Puppe durch die Luft, während Anna dastand und zusah, wie sie sie hin und her warfen. Wie sie über sie lachten. Und etwas in ihr zog sich krampfhaft zusammen. Sie ballte die Fäuste, aber sie sagte nichts. Es war, als wäre sie sechs Jahre alt, als wäre es ihre Puppe, und sie sah wieder die Angst in den abgewetzten, müden blauen Augen vor sich.
    »Hört auf!«, rief sie schließlich. »Hört auf damit! Sie gehört irgendeinem Kind und ihr könnt nicht … wenn sie kaputtgeht … irgendwem gehört sie doch! Ihr benehmt euch wie in der ersten Klasse!«
    »Das ist der Stress vor dem Abi, davon wird man unerhört kindisch«, sagte Tom entschuldigend. Aber er ließ die Puppe nicht los. »Fang sie doch«, sagte er und klang wirklich, als wäre er sechs Jahre alt. Anna fing die Puppe nicht, Bertil tat es, Bertil mit seinen zu dicken Brillengläsern. Er gab sie ihr schweigend zurück. Sie gab ihm schweigend das Blatt, das er kopieren wollte. Und die anderen vergaßen die Puppe.
    »Die Putzfrau«, sagte Bertil, ehe er ging. »Vielleicht hat die Putzfrau ein Kind … könnte doch sein.«
    »Könnte sein«, sagte Anna und lächelte ihn an. »Danke.«
    Aber als er ging, dachte sie, dass sie nicht hätte lächeln sollen. Bertil hatte diesen flehenden Hundeblick hinter seinen Brillengläsern, wenn er sie ansah, und sie wusste genau, was er bedeutete.
    Nachdem die anderen alle gegangen waren – zu ihren Nachmittagskursen, zur Bäckerei im Einkaufscenter, nach Hause –, nachdem das Kollegstufenzimmer wieder leer und still war, saß Anna noch immer auf dem Sofa, allein, die Puppe auf den Knien. Draußen war der Tag noch immer blau. Der Raureif an den Bäumen glitzerte silbern. Doch, sicherlich fror das Meer.
    Sie ließ ihren Blick über die Reihe der Bäume gleiten, die vor der Siebzigerjahre-Fensterwand draußen standen, sah ihre Äste winken, schwer von Eiskristallen. Und dann blieb ihr Blick an einer Gestalt hängen, die auf der Heizung an der Fensterwand saß, und sie erschrak.
    Sie hatte die Gestalt vorher nicht bemerkt.
    Es war Tannatek, der polnische Kurzwarenhändler, und er sah sie an. Er musste mit den anderen gekommen sein und seitdem dort sitzen, sie hatte ihn nicht bemerkt. Anna schluckte.
    Er trug immer noch die schwarze Wollmütze, auch drinnen, genau wie im Deutschkurs, in dem er wie immer kein Wort gesagt hatte. Unter dem offenen Militärparka sah man ein Böhse-Onkelz-Logo

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